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Pigeon 01

A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence

Bereits der Filmtitel dieses mit 39 Bildern überaus reichen Filmalbums ist ein Bild und so lang, wie die, die folgen. 39 Bilder eines fröhlich Verzweifelten.

Text: Hansjörg Betschart / 21. Jan. 2015

Bereits der Filmtitel dieses mit 39 Bildern überaus reichen Filmalbums ist ein Bild und so lang, wie die, die folgen: A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Exitence. 39 Bilder eines fröhlich Verzweifelten. Die drei ersten Bilder überschreibt Roy Andersson mit: «Rendez-vous mit dem Tod». Bild 1: Ein Mann überanstrengt sich beim Entkorken einer Weinflasche und stirbt neben einer vollen Flasche einen ganz und gar tristen Alkoholikertod. Bild 2: Eine Mutter besteht auf dem Sterbebett unter unberührten Kindern darauf, wenigstens ihre Handtasche voller Schmuck mit in den Himmel zu nehmen. Bild 3: Ebenso unberührt bleiben die Schiffspassagiere, die im Selfservice um einen plötzlich verstorbenen Reisenden stehen. Niemand will sein Essen, das noch auf dem Tablett an der Kasse steht, obwohl es bereits bezahlt ist. Nur für das Bier findet sich schliesslich ein Abnehmer. Immerhin hat der Tod jetzt einen Sinn.

Je nachdem, wie man im Folgenden Anderssons Fäden aufnimmt, wird man einem anderen Weg durch seine Bildergalerie folgen: Wofür steht etwa die Taube, von der im Filmtitel die Rede ist? Im Prolog sitzt sie ausgestopft in einer Glasvitrine und wird eingehend von einem Museumsbesucher betrachtet, hinter dem ein Adler im Anflug die Flügel streckt, ebenso ausgestopft wie die Taube. In Bild 20 gurrt die Taube off-screen, während eine Frau mit ihrem Baby, das im Kinderwagen liegt, spielt. Auch in Bild 30 gurrt die Taube, wenn der bankrotte Scherzartikelverkäufer sich einen Moment Ruhe gönnt und in einer kleinen Szene die Schönheit des Daseins bewundert: «Wie schön die junge Frau einen Stein aus dem Schuh klopft!» Aber hat uns das kleine Mädchen nicht im Bild 18 bereits erklärt, wie es sich mit der Taube verhält? «Sie ruht sich aus und denkt nach.» «Worüber?», fragt der Lehrer. «Dass sie kein Geld hat.»

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Der Reichtum des Lebens ist bei Andersson unbezahlbar. Vor allem für jene, die kein Geld haben. Auch der Herr Direktor aus Bild 23 scheint, mit der Pistole in der einen und dem Telefon in der anderen Hand, ein zahlungsunfähiger Mensch zu sein. Über ihm droht ein Adler im Sturzflug – wie im Prolog über dem Museumsbesucher – nur diesmal in einem Ölbild, das an der Wand hängt. Für ihn gurrt die Taube nicht.

Wie in Renaissancegemälden findet man bei jedem Schweifen durch Anderssons Bildkompositionen einen neuen Faden, je nachdem, in welcher Reihenfolge man seine grossformatigen Bilder mit den Augen abtastet. Man kann sich diesen 39 Sittenbildern ebenso wenig entziehen wie Goyas «Desastres de la Guerra». Ausser man wolle nicht über Krieg nachdenken. Das Sehvergnügen will allerdings verdient sein: Andere wären nach 38 Schnitten in Filmminute zwei angelangt. Andersson lässt seine Bilder lange stehen. Darin könnte man auch eine Verweigerung dem Filmischen gegenüber sehen. Doch malt Andersson seine Räume in derart abstossender Schönheit, dass wir uns gern auf das Bilderleben einlassen. Er zeichnet mit dem abgründigen Witz von Otto Dix seine in ein fahles Hopper-Licht getauchten Figuren und lässt sie mit der Kaltblütigkeit von Francisco Goya in grausamen Situationen landen.

Andersson verknüpft lauter 1-Bild-Geschichten kleiner Verzweiflungen zu einem grossen Fresko. Dabei ist er in den Situationen so undramatisch wie Beckett, im Dialog so karg wie Horvath und im Bild so verspielt wie Fellini. Vielleicht steht er auch deshalb im Verdacht, immer und immer wieder denselben Film zu drehen, weil er, analog zum verspielten Südländer Fellini, eine nordische Studiosprache erfunden hat, die einzigartig ist.

Variation ist dabei seine Lieblingsmethode. Die Themen werden nicht nur innerhalb seiner Filme immer wieder neu kombiniert, auch zwischen den Filmen knüpft er Verbindungen: Wurde in Songs from the Second Floor noch ein Mädchen vor der versammelten Schule unter der liebevollen Ermutigung der Lehrerin an den Abgrund einer Klippe geführt, um dort einen entscheidenden Schritt nach vorne zu machen, darf das Mädchen in A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Exitence ein selbst geschriebenes Gedicht erzählen. Unter grosser Anteilnahme seines Lehrers erzählt es auf der Schultheaterbühne, worum es in dem Gedicht geht, das es aufsagen soll. Unter verständnisinnigem Applaus der Schultheatergemeinde tappst das Kind von der Bühne.

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Wenn Andersson die kleinen Katastrophen des Alltags mit der grossen der Existenz verbindet, ist der Ausgangspunkt aber nicht nur das Bild. «Am Anfang», sagt Andersson im Gespräch, «war das Bild.» Zum Bild gehört immer auch dessen Rhythmus und die Musik oder die Melodie, die im Bild steckt. Auch akustisch variiert Andersson seine Motive. Taucht «The Battle Hymn of the Glory» in Bild 13 noch als Trinklied auf, soll es in Bild 19 die Soldaten vor der Schlacht gegen die Russen ermutigen. In Bild 29 erklingt es erneut, mit anderem Text, als Abgesang für die Kriegswitwen. Andersson lässt dasselbe Lied immer wieder erklingen, aber in Variation und mit anderem Text. Selbst von der Schallplatte, die Sam im Bild 24 immer wieder abspielt, ertönt bei jedem Abspielen ein neuer Text: das alte Lied – mit immer neuem Text.

Andersson nähert sich seinen Figuren mit der abgrundtief komischen Verzweiflung eines Menschen auf der Suche nach Glaube, Liebe, Hoffnung. Wenn die Mutter auf dem Sterbebett ihre Handtasche nicht loslassen will, ist ihr Wille stärker als ihr Glaube. Wenn der Sohn seinen Glauben, er werde seine Jugendliebe im Himmel wiedersehen, zu Ende denkt, findet er sich mit einer für ihn entsetzlichen Wahrheit konfrontiert: Wenn er seine Liebe für die Ewigkeit findet, dann, heisst das, wird er auch ewig mit seinen Eltern im Himmel zusammensein müssen!

Die Menschen sind bei Andersson immer wieder voller Hoffnung dank scheinbar unwiderstehlicher Geschäftsideen. In Songs from the Second Floor wurde der Vertrieb von Jesus-Kruzifixen in grossem Stil aufgezogen. Die Idee war bestechend. Immerhin handelt es sich bei Jesus um nach Elvis Presley die berühmteste Persönlichkeit der Welt! Und ein Jubiläum, das Jahr 2000, stand bevor! In A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Exitence ist die Geschäftsidee ebenso glänzend: Die Menschen wollen unterhalten sein; sie wollen Lachsäcke, Vampirzähne und Gummimasken! Also lässt Andersson die beiden himmeltraurigen Scherzartikelverkäufer bei jeder Gelegenheit ihren Vertreterkoffer öffnen. Er ist nie um eine liebevoll rabenschwarze Lösung verlegen. Je tiefer sich die Abgründe auftun, desto feiner malt Andersson sie uns aus, wie ein Pieter Brueghel.

Andersson entwickelt mit seinen Bildern unbändige Metaphern des Lebens. Unbezweifelt ist nur die Verzweiflung. Dabei ist sein Leitfaden nicht der Schein von Leben. Andersson ist nicht dem überstürzten Zeitgeist auf der Spur: Er zeichnet Stillstand. Und ortet dennoch viel Bewegung: Wie Brueghel oder Dix arbeitet Andersson mit grosser narrativer Klarheit, die auf den ersten Blick eindeutig, beim längeren Hinschauen aber lustvoll vieldeutig wird. «Eine Art neue Sachlichkeit», nennt Andersson diese Methode im Gespräch.

Seine Bilder erfinden ja nicht die Brutalität des Lebens, sie verdichten sie nur, lakonisch, ja, erbarmungslos, und strahlen dennoch die Frommheit einer Pietà aus: Andersson interessiert sich für die ganz, ganz kleinen Glücksgefühle der Opfer. Immer wieder kehrt er so im Hauptstrang seiner Bilder zu den beiden Rittern von der traurigen Gestalt zurück. In ihrem Bemühen, der Welt Spass zu verkaufen, sind Sam und Jonathan zerstritten wie ein Ehepaar und unbeirrbar störrisch. Da selbst ihre Kunden zahlungsunfähig sind, sind auch ihre kleinen Versöhnungen kaum ein Trost. Sie führen ein Leben in Einzelzellen, in einem streng geführten Heim. Zumindest sind sie dort vor den Betreibungsbeamten geschützt. Aber nicht vor ihren Albträumen.

Für jede Szene arbeitet der Schwede mit seinem Team monatelang im Studio an seinen Raumkunstinstallationen. Seine Methode ist so einfach wie aufwendig: Als wollte er eine ganze Theateraufführung in ein Bild fassen, lässt er seine Figuren in haarsträubenden Situationen festgefahren und passiv wirken. Dennoch sind seine Bilder sehr kommunikativ: Ausgerechnet er, der das Erzählkino nicht mag, ist ein begnadeter Geschichtenkonstrukteur. Darin folgt er aber mehr der Malerei der Renaissance als dem narrativen Kino: Hinter jeder offenen Tür steckt eine weitere Welt. So schafft er es, immer mehrere Erzählstränge am Laufen zu halten. Wer seine Bilder lang genug betrachtet, wird die Geschichten ganz für sich allein entdecken – und mit anderen lachen.

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Zwar scheint die hinreissend temperamentvolle Flamencotänzerin, die ihren Lieblingstänzer immer wieder kontaktfreudig betatscht hat, schon vergessen. Ein paar Bilder später steht der Generalleutnant auf der Strasse und telefoniert. Er vermutet, er habe sich wohl in Uhrzeit und Tag geirrt, da im Restaurant niemand auf ihn warte. Doch während er spricht, wird im Hintergrund, im Fenster des Restaurants knapp sichtbar, die Flamencolehrerin weinend von ihrem Schüler sitzengelassen.

Die inneren Verbindungen der Einzelteile geschehen aber auch über das Wort. Auch wenn Roy Andersson dem Bild verpflichtet ist, ist er ein Poet des Wortes. Er wendet das Wort aus dem Alltag einfacher Menschen an wie der Mundartdichter Ernst Burren. Er schaut den Leuten erst auf die Finger, dann aufs Maul: «Wie schön zu hören, dass es euch gut geht» («Va roligt att höra, att ni har det bra»), ist einer dieser Leitsätze, die durch das 39-Bilder-Album führen. «Wie schön zu hören, dass es euch gut geht», taucht denn auch gleich mehr-fach auf: Der Direktor sagt den Satz, während in seiner Hand eine Pistole baumelt und er die andere Hand mit einem Telefon an seinen Kopf hält. Die Tierforscherin im Versuchslabor sagt den Satz ins Telefon, während neben ihr ein verdrahteter, von Stromstössen gepeinigter Affe sich windet. Sie wiederholt den Satz aber noch liebevoller, weil sie wegen des Affengeschreis schlecht verstanden worden sein mag. «Wie schön zu hören, dass es euch gut geht», sagt auch die Putzfrau, die auf dem Boden kniet.

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Andersson ist der Schalk unter den nordischen Filmern. Er ist der ins Detail verliebte Narr des Königreichs Schweden. Wenn Soldaten die Frauen aus der Kneipe vertreiben, dann nur, weil demnächst der König kommt. Carl XII. reitet gleich samt Pferd an die Bar und rekrutiert nach einem Glas Wasser den Barkeeper als Soldat (und seinen Geliebten). Er soll auch bei ihm im Zelt schlafen. Ein paar Bilder später will der König, auf dem Rückweg von der wegen Regen verlorenen Schlacht, seiner Notdurft nachgehen. Doch die Toilette ist leider besetzt. Und der Barkeeper tot.

Anderssons Humor ist von gewaltigem Ausmass, aber eben nicht immer zum Schreien komisch: Während ganz langsam ein Eisenbahnzug wuchtig vorbeirollt, streiten die beiden Scherzartikelgeschäftspartner ausgerechnet darüber, dass der eine immer viel zu langsam geht. So geht er. So. Soo! Wie ein Zombie! Als wären Christoph Marthalers Figuren in die Bilder von Edward Hopper geflohen und müssten dort auf ihren letzten Einsatz in der Endzeit warten. Dabei ist Andersson längst über Marthaler und Tadeusz Kantor hinaus. Ihn verbindet mit beiden seine enorme Theatralität. Die Aktionen sind bei ihm filmische Marter. Aber theatralisch lässt er uns mit jedem Bild frohlocken. In Sätzen, die von Ernst Burren stammen können. Von Menschen nebenan.

Andersson ist aber nicht nur ein erbarmungsloser Chronist. Er ist auch ein souveräner Anachronist. In Bild 35 fasst er, schon fast am Ende des Bilderrundgangs, mehrere geschichtliche Ungeheuerlichkeiten in einer grandiosen heutigen Metapher zusammen: Englisch sprechende Kolonialisten treiben gestrandete Afrikaner in eine gewaltige Metalltrommel hinein – unter Hundegebell. Hernach wird unter den Eingesperrten ein Feuer entfacht. Die Trommel beginnt sich langsam zu drehen, und es bleibt unserer Phantasie überlassen, zu ahnen, warum – während die Wehgesänge der derart Gefolterten aus dem Inneren wie aus einer riesigen Edison-Walze zu uns hinausdringen: irrwitzig schöne Klänge, die von Arvo Pärt stammen könnten. Doch das Bild hat noch eine weitere Tiefe: Aus dem Opernhausfoyer gegenüber verfolgt ein neugieriges Premierenpublikum das Geschehen, das jetzt nur noch in einer Spiegelung sichtbar bleibt: Mit Cüpli in der Hand werden die Herrschaften Zeuge des Grauens. Der Kolonialismus von damals wird zur Genozidoper von heute. Auch hier: das alte Lied.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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