Lamb

Yared Zeleke
Der Äthiopier Yared Zeleke zeichnet in seinem Debütfilm (der erste Spielfilm der aus diesem Land bei den Filmfestspielen von Cannes teilnahm) ein ungewöhnliches Porträt eines kühnen Jungen in einem politisch zerrütteten Äthiopien. Lamb erzählt glaubhaft und authentisch eine Geschichte, die in ihrer Bildsprache das tiefgrüne Flimmern der Weiten von Gondar und die dunklen, erdigen Wohnungen der Dorfbewohner stimmungsvoll vereint.
Der Äthiopier Yared Zeleke zeichnet in seinem Debütfilm (der erste Spielfilm der aus diesem Land bei den Filmfestspielen von Cannes teilnahm) ein ungewöhnliches Porträt eines kühnen Jungen, in einem politisch zerrütteten Äthiopien. Zeleke, der in Addis Abeba aufwuchs und an der New York University Drehbuch und Regie studierte, erzählt vom Halbwaisen Ephraim, der nach dem Tod seiner Mutter vom Vater zu Verwandten auf einen entlegenen Hof gebracht wird. Ephraim kann sich mit der Lebensweise der Bergbauern nicht anfreunden und versucht im Gegensatz zur seiner neuen Umgebung seine Situation fern von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen zu verändern und zu verbessern. So stösst er auf grosses Unverständnis, als er sich der Kochkunst widmet, die ihn an seine verstorbene, jüdische Mutter erinnert, die ihn darin unterrichtete – in einem Metier, das den Frauen zugedacht ist. Obendrein erweist er sich als reichlich untalentierter Bauer. Von Heimweh getrieben unternimmt Ephraim mit seinem einzigen wahren Freund, seinem Schaf Chuni, einen Versuch, dem ungeliebten Ort zu entkommen.
Zeleke dreht diese Selbstfindungsgeschichte mit Coming-of-Age-Elementen in ethnografischer Manier vor den atemberaubenden Weiten des Hochlands von Gondar. Dabei schenkt der Regisseur der indigenen Kultur viel Aufmerksamkeit. Ephraims Adoptivfamilie lebt paradigmatisch für die grosse Mehrheit der Äthiopier in Subsistenzwirtschaft, eingebunden in der ländlichen Gemeinschaft. Man sieht die Familie in langen Einstellungen ihrer harten Arbeit auf dem Feld nachgehen, Stammesgespräche führen und Festivitäten begehen. Ihre Wohnungen sind ärmlich und kommen ohne viel Tageslicht aus, die Mahlzeiten bescheiden und karg. Elektrischen Strom oder Wasser gibt es hier nicht. Es herrscht eine Stimmung der gesellschaftlichen Unsicherheit und des Umbruchs. Traditionelle Herrschaftsstrukturen haben ihre einstige Dominanz verloren. So gelingt es dem Familienoberhaupt Salomon nur noch mit Mühe, sein Ansehen zu wahren. Hilflos tobt er etwa herum, als er erfährt, dass die Frauen den Boden nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Urin düngen. Der festgefahrene Patriarch befürchtet, dass die unbekannte Methode Schande über seine Familie bringt.

Tatsächlich ist Salomon in der zentralen Auseinandersetzung des Films, dem Zusammenprall zwischen Ephraims Zielen und den etablierten Geschlechterrollen, darum bemüht, die gängigen Tugenden und Normen aufrechtzuerhalten – mit diesem Motiv erinnert Lamb an Film wie Wadjda oder Pelo Malo. Die Frauen der Familie sind bald eingenommen vom eigenwilligen Charme des Jungen, der ein kleines Unternehmen lanciert, um auf dem örtlichen Markt Samosas anzubieten. Damit will er Geld erwerben, um sein Schaf Chuni vor Salomons Schlachtbank zu retten. So kommt es zu einer der schönsten Szenen, als die Frauen Ephraim treuherzig versprechen, dass er seine Spezialitäten zubereiten dürfe, wenn Solomon auf dem Feld sei: «Das bleibt unser Geheimnis», beteuern sie.

Die Nebenhandlung um Tsion, Ephraims Cousine und Alter Ego, stärkt das zentrale Motiv. Obwohl von den Ältesten im Dorfe gedrängt, lehnt sie es ab zu heiraten. Sie bevorzugt es, sich mit Zeitungslektüre zu bilden, schult ihren kritischen Geist und träumt davon, in der Stadt Medizin zu studieren. Tsion besitzt unter den Figuren am meisten eigenen Willen und lebt in der Überzeugung, dass der einzige Weg aus den limitierten Möglichkeiten des Dorfes zu entkommen, über universitäre Bildung führt.
Lamb erzählt glaubhaft und authentisch eine Geschichte, die in ihrer Bildsprache das tiefgrüne Flimmern der Weiten von Gondar und die dunklen, erdigen Wohnungen der Dorfbewohner stimmungsvoll vereint. Am Ende fordert das Schaf Chuni, um das sich der Junge liebevoll kümmert und das er für immer besitzen möchte, seine Freiheit ein. Ephraim muss erkennen, dass einzig das Loslassen Freiheit und Wandel ermöglicht.
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