Filmbulletin Print Logo
Theeb 01

Theeb – Wolf

Den ersten Minuten von Theeb, dem Spielfilmdebüt des in England geborenen jordanischen Filmemachers Naji Abu Nowar, haftet ein dokumentarischer Charakter an, genauen Blicks verfolgt die Kamera die eingespielten und überlebenswichtigen Bewegungsabläufe und Routinen. Gleichzeitig gibt dieser Film jedoch von Beginn an zu erkennen, wie viel ihm am Erzählen einer Geschichte gelegen ist.

Text: Michael Pekler / 11. Mär. 2015

Entgegen der spürbaren Weite, die das Zeltlager umgibt, ist der Alltag der Beduinen von Enge bestimmt. Das grösste Zelt bietet gerade genug Platz, wenn sich die Männer am Abend versammeln; den Ziegen in ihrem Gehege ist kaum ausreichend Auslauf gegönnt; und auch der Weg zur Wasserstelle ist entsprechend kurz. Alles hier dient einem ökonomischen Zweck, alles ist darauf ausgerichtet, mit den Kräften sparsam umzugehen. Denn die Wüste fordert den Menschen einiges ab, man muss die natürlichen und die eigenen Ressourcen kennen und gezielt verwenden.

Auch die Wege, die der kleine Theeb zurücklegt, sind vorerst noch kurz. In zerlumpten Hosen und löchrigem Hemd steht er zu Beginn des Films neben dem Wasserloch und hilft seinem älteren Bruder beim Tränken der Kamele. Hussein, ein junger Mann, hat offensichtlich die Verantwortung für Theeb übernommen. Er weist ihn bei einem Fehler liebevoll zurecht, bietet Unterstützung und nimmt ihn sogar zu Schiessübungen mit. Einen richtigen Schuss abgeben darf Theeb freilich noch nicht, denn er ist ein miserabler Schütze, und auch Patronen gilt es, buchstäblich gezielt zu verwenden.

Diesen ersten Minuten von Theeb, dem Spielfilmdebüt des in England geborenen jordanischen Filmemachers Naji Abu Nowar, haftet ein dokumentarischer Charakter an, genauen Blicks verfolgt die Kamera die eingespielten und überlebenswichtigen Bewegungsabläufe und Routinen. Gleichzeitig gibt dieser Film jedoch von Beginn an zu erkennen, wie viel ihm am Erzählen einer Geschichte gelegen ist: «Wenn die Wölfe dir ihre Freundschaft anbieten, traue ihnen nicht», lautet die Übersetzung des arabischen Schriftzugs, der noch vor dem ersten Bild zu lesen ist. «Sie werden dir nicht zur Seite stehen, wenn du dem Tod ins Auge blickst.» Obwohl man nie erfahren wird, was mit Theebs Vater geschehen ist, werden diese Worte im Lauf des Films doch zu seinen. Denn man erinnert sich ihrer, wenn der Junge später allein in der Wüste um sein Leben kämpfen muss.

Über den Ort und die Zeit des Geschehens bleibt man lange im Ungewissen, einen ersten Hinweis liefert zunächst jener Fremde in Uniform, der die gewohnte Ordnung stört und der Theebs Interesse nachhaltig weckt. Der englische Soldat mit der geheimnisvollen Holzkiste, die er wie seinen Augapfel hütet, braucht einen Führer, der ihm den weiteren Weg zeigt. Die Wahl fällt auf Hussein, der den Engländer und seinen arabischen Begleiter von einem Wasserloch zum nächsten führen soll. Theeb soll ohne den Bruder im Lager zurückbleiben, doch sein Name bedeutet «Wolf», und schon sein entschlossener Blick verrät, dass er sich dieser Entscheidung nicht beugen wird.

Theeb 02

Theeb entwickelt sich somit unerwartet zu einer Reiseerzählung, deren Spannung darauf baut, dass hinter jeder Wegbiegung etwas Unerwartbares geschehen kann. Das entspricht nicht nur einer klassischen arabischen Erzähltradition, sondern sorgt auch dafür, dass buchstäblich jeder Schritt, den die drei Männer und der Junge setzen, genau bedacht sein will. Ab diesem Zeitpunkt messen Naji Abu Nowar und sein österreichischer Kameramann Wolfgang Thaler der kargen, pittoresken Landschaft, die zu Beginn wohlweislich nur zu ahnen war, besondere Bedeutung bei. Während etwa die drei Männer beratschlagen, wie Theeb am besten wieder zurückgeschickt werden könnte, sieht man den Jungen am Boden kauern. Die Trockenheit hat Furchen in die Erde gerissen, und durch einen solchen Graben bewegt der Junge einen Zweig, ohne damit den Rand dieser kleinen Schlucht zu berühren. In der nächsten Einstellung sehen wir die Gruppe durch einen tiefen Canyon reiten – so wie es Theeb eben mit seinem Zweig vormachte. Umso beeindruckender die Kraft, die im nächsten Augenblick die erste Totale dieses Films entfaltet, wenn die Schlucht wieder ins Freie führt: Scheinbar endlos weit erstreckt sich der Horizont, und die Reiter müssen innehalten, um den richtigen Weg einzuschlagen. Niemand weiss, ob der Tag beim nächsten Wasserloch endet oder im Verderben.

Dass beides möglich ist, zeigt der weitere Verlauf der Reise, über den hier nicht berichtet werden soll, der dem Jungen aber all seine Kraft und ein Kämpferherz abverlangt. Erwähnt werden muss jedoch, wie dieser Film seinen politischen und historischen Hintergrund Stück für Stück, mitunter sogar Bild für Bild, enthüllt. Die Erzählung, die mit Ausnahme des Auftauchens des britischen Soldaten bis dahin so gut wie keine Anhaltspunkte über Zeit und Schauplatz des Geschehens lieferte, bekommt nun einen Rahmen: Womit sich Theeb konfrontiert sieht, das sind die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, der Tausende Kilometer entfernt in Europa tobt und in den auch das Osmanische Reich eingetreten ist. Die Zukunft der Beduinenstämme auf der arabischen Halbinsel ist so ungewiss wie jene des Landes. Die alten Ordnungen und Hierarchien zählen plötzlich nicht mehr, die das Land durchpflügende Eisenbahn stösst schwarze Rauchwolken aus und wird zum Symbol der Zerstörung. Und die geheimnisvolle Holzkiste zu einem Werkzeug von unschätzbarem Wert, für das so mancher bereit ist, Blutgeld zu kassieren.

Auch wenn Naji Abu Nowar am Ende verstärkt auf Motive und Ideen des Genrekinos zurückgreift und Theeb mitunter wie ein arabischer Western anmutet, trägt dies zur Vielschichtigkeit dieses Films bei: Die beinahe archaisch anmutende Erzählung vom Kampf ums nackte Überleben, vom Guten gegen das Böse, erfährt in diesem abgelegenen Winkel eines zerfallenden Imperiums angesichts einer neuen Weltordnung eine ebenso neue Dimension.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

13. Okt. 2019

Ask Dr. Ruth

Nicht als Überlebende, sondern als Waisenkind des Holocausts versteht sich die Fernseh-Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer. Eine Verbeugung vor einer aussergewöhnlichen Frau.

Kino

12. Juni 2013

Monsters University

Als Monster Inc. vor mehr als elf Jahren in die Kinos kam, war man zunächst ein wenig irritiert. Ein Animationsfilm, in dem es um Angst geht, um das Erschrecken von Kindern? Um Monster, die in einer Parallelwelt leben und den Schreckensschrei der Kleinen als Energiequelle nutzen?

Kino

04. Sep. 2017

Ein Volk auf der Höhe

Frédéric Gonseth zeichnet den Abstimmungskampf um den Gripen nach. Trotz des spannenden Themas wirkt der Film altbacken. Man fragt sich, für wen er eigentlich gemacht wurde: für die Nachwelt, für die Schule oder fürs Ausland?