Eden

Mia Hansen-Løve
In den Filmen von Mia Hansen-Løve kann man beobachten, was die Zeit mit den Menschen macht. Die Menschen sind nämlich nicht nur den Glücksfällen und Widrigkeiten ausgesetzt, die das Leben für sie bereithält, sondern auch der Zeit, die verstreicht.
In den Filmen von Mia Hansen-Løve kann man beobachten, was die Zeit mit den Menschen macht. Die Menschen sind nämlich nicht nur den Glücksfällen und Widrigkeiten ausgesetzt, die das Leben für sie bereithält, sondern auch der Zeit, die verstreicht. Oft spannt sich die Erzählung über mehrere Jahre, mitunter über Jahrzehnte, und obgleich man als Zuschauer in den entscheidenden, oft dramatischen Augenblicken zur Stelle ist, lernt man die Menschen in diesen Filmen erst im Lauf der Zeit kennen.
Vielleicht ist in diesen Filmen auch deshalb alles und jeder in Bewegung: die Menschen mit ihren Geschichten voller Freuden und Sorgen, Paris mit seinem endlos dahinfliessenden Verkehr und den überfüllten Cafés und sogar die Natur, die sich im Lauf der Jahreszeiten verändert. Alles ist im Fluss, unterliegt jenem Wandel, den das Leben mit sich bringt. Nur dass die Zeit in den Filmen von Hansen-Løve nicht alle Wunden heilt.
Erst vier Langfilme umfasst das bisherige Œuvre der französischen Filmemacherin, die vor ihrem Debüt als Regisseurin Schauspiel und Philosophie studierte und daneben für die «Cahiers du Cinéma» schrieb. Doch bereits in ihrem Debüt Tout est pardonné kann man jenen unverwechselbaren Stil erkennen, der seither ihre Arbeiten prägt. Die Filme von Mia Hansen-Løve sind trotz – oder gerade aufgrund – ihrer melancholischschweren Thematik geprägt von Sensibilität und durchdrungen von Leichtigkeit; es sind Filme, die sich Zeit nehmen für stille Beobachtungen und genug Platz lassen für leise, optimistische Zwischentöne.
In Eden haftet diese Melancholie einem jungen Mann an, der zu Beginn des Films buchstäblich zurückbleibt: Nach einem Rave-Besuch streift Paul mit seinen Freunden durch den Wald, doch plötzlich lässt er die anderen weiterziehen und legt sich unter einen Baum. Man schreibt die frühen neunziger Jahre, und Paul ist fasziniert von der neuen amerikanischen House-Musik, die gerade nach Frankreich schwappt. Paul ist ein Träumer, und als er in den Nachthimmel starrt, sieht er einen mit bunten Strichen animierten Vogel emporsteigen. Ein Augenblick der Irritation, aber auch ein erstes Wegzeichen für das Kommende: Paul hat diesen einen Traum, er möchte ein bekannter DJ werden – Eden handelt davon, wie sich dieser Traum und die Wirklichkeit ständig aneinander reiben.

Über zwanzig Jahre hinweg begleitet der Film, den die Filmemacherin gemeinsam mit ihrem in den neunziger Jahren als DJ tätigen Bruder Sven Hansen-Løve geschrieben hat, seinen Protagonisten und dessen Lebensprojekt. Gemeinsam mit einem Freund gründet Paul das DJ-Duo Cheers, dem es trotz aller Ambitionen nicht gelingt, aus dem Schatten der allseits bejubelten Daft Punk zu treten – eine Konkurrenz, die Hansen-Løve jedoch nicht als Rivalität zeichnet, sondern als augenzwinkernden Running Gag, wenn die Stars am Elektromusikhimmel im Gegensatz zu Paul wieder einmal in die angesagten Nachtclubs eingelassen werden. Doch Eden ist weit davon entfernt, eine Musikerbiografie zu sein, die sich den Höhen und Tiefen einer Karriere widmet. Pauls wechselnde Bekanntschaften mit Frauen (darunter Greta Gerwig als Amerikanerin in Paris), sein Drogenkonsum, sein von ständigen Geldsorgen überschatteter Alltag, sein angespanntes Verhältnis zu seiner Mutter, der langsame Zerfall der seit Jugendtagen bestehenden Freundesgruppe – all das erzählt Hansen-Løve ohne dramatische Zuspitzungen en passant, weil auch die Zeit keine Dramatik kennt, sondern immer gleich schnell verstreicht.
Wie viel – oder eben wie wenig – sich in zwanzig Jahren in Pauls Leben ändert, merkt man erst dann, wenn offensichtlich wieder ein paar Monate oder vielleicht Jahre vergangen sind. Diese Zäsuren innerhalb der Erzählungen sind typisch für die Filme von Hansen-Løve. Es sind oft markante Einschnitte, wie etwa das Verschwinden des Vaters in Tout est pardonné, der mit seiner Drogensucht das fragile Familiensystem zerrissen hat, oder der Selbstmord des Ehemannes und Filmproduzenten in Le père de mes enfants, mit dessen Tod sich der Film dem Kampf der Hinterbliebenen gegen die plötzliche Leere zuwendet. Un amour de jeunesse, Hansen-Løves dritter Langfilm, erzählt von einer jungen Frau, die ihre erste Liebe aufgeben muss, von dieser aber weiterhin verfolgt wird. Ständig werden die Menschen in diesen Filmen in eine neue Gegenwart geworfen, wodurch aber auch ihre Verluste in ihren zerstückelten Biografien umso stärkeres Gewicht bekommen. Was Paul in Eden zermürbt, ist weniger der Umstand, dass er sein grosses Ziel nie erreicht, sondern es ist der ständige Versuch des Neubeginns.
Doch jeder Mensch hat sein eigenes Lebenstempo und muss seine eigenen Erfahrungen machen. Deshalb kommen in den Filmen von Hansen-Løve auch keine Rückblenden vor, denn der Blick ist immer nach vorne gerichtet: Wichtiger als der Verlust und die Trauer sind am Ende die Kontinuitäten des Lebens und jene Dinge, die man diesem allen Widrigkeiten zum Trotz abgewinnt.
In Eden bleibt dieser grosse Bruch in der Erzählung aus, stattdessen summieren sich die vielen kleinen. Ausgerechnet der pulsierende Rhythmus der Musik, der für ihn zum Lebensantrieb geworden ist, lässt Paul anscheinend innerlich auf der Stelle treten. Entgegen dem Bild, das er in der Öffentlichkeit entwirft, läuft dieser verschlossene Mann der Zukunft hinterher, während sie ihm mit jedem Beat zwischen den Fingern zerrinnt.
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