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Haerte

Härte

Rosa von Praunheim nähert sich in seinem neuen Dokumentarfilm in einer Mischung aus Interviews und inszenierten Spielszenen diesem Leben, dem Demütigung und Angst einen Stempel aufdrücken, der sich nur durch Brutalität und Selbsthass ausradieren lässt.

Text: Michael Ranze / 27. Juli 2015

Eine Mutter kniet vor ihrem sechsjährigen Sohn. «Dein Schwanz gehört mir, Freundchen!», bellt sie mit tiefer Stimme. Ein Satz wie aus dem Vorhof der Hölle. Dabei schaut sie, eine aberwitzig toupierte schwarze Perücke auf dem Kopf, zur Kamera hoch, so als ahmte der Apparat den erschrockenen Blick des Kindes nach. Ein Moment des Horrors, abstossend und unglaublich, durch die ungeahnte Präsenz von Katy Karrenbauer, die man aus so unwichtigen TV-Serien wie «Hinter Gittern – Der Frauenknast» kennt, fast ins Unwirkliche, Albtraumhafte getrieben. Das ist keine Verführung mehr, sondern sexueller Missbrauch, der sich tonnenschwer auf die Seele des Jungen legt. Als der Bub zwei Jahre alt ist, übergiesst ihn der Vater mit Wasser und stellt ihn mitten im Winter bei Minustemperaturen auf den Balkon. Später wird er ihm aus purem Sadismus die Hand zerquetschen. Aus einer derart traumatisierten, gestohlenen Kindheit entsteht keine «normale» Biografie: Andreas Marquardt, geboren 1956, war Schläger und Zuhälter, einer der brutalsten und gefährlichsten der Berliner Halbwelt der achziger und neunziger Jahre.

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Rosa von Praunheim nähert sich in seinem neuen Dokumentarfilm in einer Mischung aus Interviews und inszenierten Spielszenen diesem Leben, dem Demütigung und Angst einen Stempel aufdrücken, der sich nur durch Brutalität und Selbsthass ausradieren lässt. «Ich habe keine Gefühle zugelassen. Ich war ein eiskalter Typ, ein Block, mir war alles scheissegal», gesteht Marquardt offen vor der Kamera. Auch bei Premie ren, ob während der Filmfestspiele in Berlin oder zum offiziellen Kino start Ende April in Deutschland, ist Marquardt immer bereit, seine Schuld einzugestehen und offensiv mit der kriminellen Vergangenheit, auch mit seiner Frauenverachtung umzugehen. Der Kritik an seiner Person und seinem Verhalten, das man auch zu selbst bewusst finden kann, nimmt er so von vornherein den Wind aus den Segeln. Zu Beginn des Films lernen wir Marquardt in farbigen Dokumentarszenen aus der jüngsten Vergangenheit zunächst als Karate-Champion kennen, der in einem Sportstudio im Berliner Stadtteil Neukölln Kindern und Jugendlichen das Einmaleins des Nahkampfs beibringt. Sie sollen sich wehren können, um nicht so gepeinigt zu werden wie er selbst. «Solange ein Kind Schmerzen ertragen muss oder sexuell missbraucht wird, ist unsere Scheisswelt nicht in Ordnung», sagt der Karatelehrer mit Berliner Schnodder schnauze. Ein Satz, den er auch bei öffentlichen Auftritten zur Promotion des Films oft wiederholt: Diese Feststellung ist ihm wichtig. Das Herzstück des Films sind aber die Spiel szenen, die in streng stilisierendem Schwarzweiss in die Vergangenheit entführen. Rückprojektionen, die wie Foto tapeten aussehen, ersetzen die Kulissen und brechen so die Illu sion, einer kinogerechten Heldengeschichte zuzusehen. Trotzdem lassen sie die Atmosphäre des Westberlins der sechziger und siebziger Jahre wieder aufleben: ein spiessbürgerlicher Mief, aus dem nichts Gutes entstehen kann.

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Marquardt wird von Hanno Koffler gespielt, der mit ungeheurer körperlicher Wucht, mit Wut und Zweifel diese verletzte Männerseele gibt. Er treibt für Kredithaie skrupellos Gelder ein, gerät ins Rotlichtmilieu, verdient Millionen, weil er Frauen für sich anschaffen lässt. Die lassen sich alles gefallen, Schläge und Demütigungen, aus Liebe. Abrechnung mit dem Vater, Loslösung von der Mutter, die auch normale Liebesaffären ihres Sohnes eifersüchtig hintertreibt. Am interessantesten ist dabei Marquardts Beziehung zu Marion Erdmann, mit der er heute noch zusammenlebt. Sie hat ihm (fast) alles verziehen, geht mit ihm durch dick und dünn. Ihre Unterwürfigkeit, die sich in beklemmenden Ritualen offenbart, wird von Luise Heyer in einer Mischung aus Naivität und Willenskraft perfekt verkörpert. Dann das Gefängnis, eine mehrjährige Haft, in der sich Marquardt dem Therapeuten Jürgen Lemke anvertraut und erstmals über seine verkorkste Kindheit sprechen kann. Endlich ist der Teufelskreis aus familiärer Gewalt und unreflektierter Gegenwehr durchbrochen. Gemeinsam schreiben sie ein Buch, das nun Rosa von Praunheim als Vorlage diente. Von ihm hätte man den Film am allerwenigsten erwartet, zumal er sich sonst um andere Themen kümmert und auch lieber mit Laiendarstellern zusammenarbeitet. Doch diese Geschichte einer Läuterung hatte es ihm angetan. Es ist einer seiner besten Filme.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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