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White God

Wer mit der Serie Lassie aufgewachsen ist, weiss, dass das Heimweh eines Hundes einen zu Tränen rühren kann. Und es ist kein grosses Geheimnis, dass das nur deshalb so gut funktioniert, weil Tiere mehr über die menschliche Gefühls- und Verhaltenswelt erzählen als über ihre eigene. Kornél Mundruczó nutzt diese Strategie in White God und stellt der 13-jährigen Lili den treuen Weggefährten Hagen zur Seite

Text: Patricia Vidovic / 27. Juli 2015

Wer mit der Serie Lassie aufgewachsen ist, weiss, dass das Heimweh eines Hundes einen zu Tränen rühren kann. Und es ist kein grosses Geheimnis, dass das nur deshalb so gut funktioniert, weil Tiere mehr über die menschliche Gefühls- und Verhaltenswelt erzählen als über ihre eigene. Kornél Mundruczó nutzt diese Strategie in White God und stellt der 13-jährigen Lili den treuen Weggefährten Hagen zur Seite, einen verspielten Mischlingshund, der sich schnell als eigentlicher Protagonist und Charakterdarsteller entpuppt.

Das Drama bahnt sich schon zu Beginn auf einem Parkplatz an, als das Scheidungskind Lili für drei Monate in die Obhut ihres Vaters Daniel über geben wird, da ihre Mutter mit dem neuen Lebens gefährten zu einer Kongressreise aufbricht. Dumm nur, dass in der elterlichen Organisation scheinbar unerwähnt blieb, dass inzwischen ein zusätzliches Familienmitglied auf der Rückbank sitzt. Zwischen Daniel und Hagen ist es alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Als Lebensmittelprüfer beurteilt Daniel Tiere in erster Linie nach ihrer Eignung zum Verzehr und nicht nach Kuschelqualitäten. Hinzu kommt, dass sich Hagens Existenz schnell zu einem tatsächlichen Problem entwickelt, weil einem neuen Gesetz zufolge eine Hundesteuer für Mischlinge anfällt. Weshalb sich Daniel vehement gegen diese Zahlung wehrt, bleibt offen. Als Folge seiner Sturheit (wohl auch im Sinn der Filmdramaturgie) wird der Hund auf der Strasse ausgesetzt und seinem Schicksal überlassen. Ab diesem Moment spaltet sich die Handlung in zwei Stränge, in denen wir Lilis Emanzipation von der väterlichen Erziehung sowie Hagens Weg durch die rauen Strassen Budapests beobachten. Im Zuge eines «Säuberungsauftrags» ist er als umherstreunender Mischling in der Stadt Freiwild. Hagen wird nach einer abenteuerlichen Odyssee schliesslich an einen Hundetrainer verkauft, der ihn zu einem Kampfhund abrichtet und für illegale Wetten einsetzt. Hagen gelingt die Flucht, und ausgestattet mit einem gefährlichen Aggressionstrieb sowie dem Wunsch nach Rache tritt er – gemeinsam mit einer Armee befreiter Artgenossen – seine Heimreise an.

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Wenn die Einkaufspassage plötzlich von einem Heer an sprintenden Vierbeinern geflutet und verwüstet wird, ist das ein beeindruckendes visuelles Spektakel. Mundruczó arbeitete für den Film mit etwa 250 Hundestatisten und verzichtete dabei nahezu komplett auf Computeranimation. Stattdessen waren sechs Kameras und rund fünfzig Hundetrainer im Einsatz. Der Film zwingt den Betrachter auch immer wieder in die Perspektive eines Hundes, allein schon durch die zahlreichen Point-of-View-Shots aus Hundesicht. Wie überquert man als Hund eine vierspurige Schnellstrasse? Und was empfindet ein Hund, nachdem er zum ersten Mal einen Artgenossen totgebissen hat? Die Grenzen zwischen Menschlichem und Tierischem scheinen im Film fliessend – vor allem wenn man weiss, dass ein Grossteil des Hundegebells von zwei Synchronsprechern stammt. Auch die Drehplanung ist bezeichnend: von den 55 Drehtagen wurden 40 Tage allein den Hunden gewidmet. Den Tieren wird damit bewusst mehr psychologische Tiefe zugesprochen als den zum Teil seltsam flach bleibenden menschlichen Figuren.

Vielleicht rettet sich White God mit seiner überspitzten Figurenzeichnung in die Lesart einer Gesellschaftsparabel, in der es um ein allgemeingültiges Porträt von Minderheiten und das Auflehnen gegen bestehende Machtstrukturen geht. Wenn Lilis Blick in den väterlichen Kühlschrank nur auf rohes Fleisch trifft, mag das zwar nicht so recht zu einer Figur passen, die in ihrer bürgerlichen Altbauwohnung vor Kunstdrucken zu Abend isst. Es unterstützt jedoch das Bild der sozialen Ordnung im Film, die sich auf den simplen Imperativ «fressen oder gefressen werden» reduziert. White God bezieht sich weniger auf filmische Referenzbeispiele wie White Dog (1982) von Sam Fuller, nimmt vielmehr Bezug auf eine Passage aus J. M. Coetzees Roman «Schande», dessen Handlung kurz nach der Aufhebung der Apartheid spielt. Der afrikanische Farmhelfer, der eine Tierpension betreut, bezeichnet sich darin selbst ironisch als «Hunde-Mann». Mundruczó überträgt die Verhandlung von Rassendiskriminierung und Menschlichkeit anhand des Tierischen in einen (ost)europäischen Kontext und rückt durch die Hunde die Genealogie des Bastardentums in den Fokus. Aus der Perspektive des Hundes wird der Mensch zum weissen Gott.

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Wie bereits in seinen (zum Teil morbiden) Vorgängerfilmen Schöne Tage, Delta oder Tender Son: Das Frankenstein-Projekt widmet sich der ungarisch-rumänische Regisseur wiederholt Themen wie Inzest, familiäre Abstammungsverhältnisse und Identität. Er bezeichnet sich selbst als Grenzgänger, der als Film-, Theater- und Opernregisseur gern mit Genres experimentiert. Als Teil der von ihm proklamierten Generation Zero steht er für ein neues Kino in Ungarn und ist auch einer seiner prominentesten Vertreter. In White God, seinem bisher «ungarischsten Film», wie er sagt, bewahrt sich Mundruczó seine Vorliebe für bedeutungsschwangere Stoffe. Trotzdem driftet der Film durch seine Parabelstruktur nicht allzu sehr ins Nebulöse ab. Das musikalische Leitmotiv, das Lili auf ihrer Trompete einstudiert, spricht für sich: Franz Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 (auch bekannt für ihre sogenannte «Zigeuner-Moll-Tonleiter») kann als subtiler Seitenhieb auf die gegenwärtige Situation Ungarns respektive das Wiedererstarken der rechtspopulistischen Partei gelesen werden. Mundruczó ist nicht der Einzige, der die Gefahr einer Zirkularität der historischen Vergangenheit erkennt, die sich im Umgang mit ethnischen und politisch andersdenkenden Minderheiten äussert. White God vermag zwar mit beeindruckenden Bildern, den politischen Anspielungen und der überraschend facettenreichen Mimik eines Hundes zu überzeugen. Doch reicht er mit seinem versöhnlichen Ende doch nicht an die inne re Komplexität der aufgeworfenen Fragen heran. Und die Rettung durch einen deutschen Nibelungenheld wirkt in seiner romantischen Versponnenheit dann doch zu offensichtlich einer intellektuellen Feder entsprungen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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