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Comme un avion

Michel ist ein Träumer, von seiner Umwelt als solcher toleriert, weil er sich bisher mit kleinen Umsetzungen seiner Phantasien zufrieden gegeben hat, mit einer Sammlung von Flugzeugmodellen und Plakaten. Wird die Reise im Kajak den grossen Ausbruch markieren?Comme un avion ist ein Film, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Sein lakonischer Humor, der ihn so anstrengungslos wirken lässt, ist genau austariert.

Text: Frank Arnold / 17. Jan. 2016

Michel ist ein Träumer. Sein Bruder Rémi, in dessen Unternehmen er als Grafikdesigner arbeitet, muss ihn schon mal ermahnen, als er bei der Arbeit eingeschlafen ist. Wenn er in Lederjacke und mit wehendem Schal auf seinem Motorrad die Distanz zwischen Arbeitsplatz und Wohnung zurücklegt, dann imaginiert er dabei das Fliegen, denn das ist seine Leidenschaft – abzuheben wie sein Idol, der Postfliegerpionier Jean Mermoz. Eines Tages stolpert Michel über das Wort «Kajak» und muss verblüfft feststellen, dass dieses Boot Ähnlichkeit mit dem Rumpf eines Flugzeugs besitzt. Schon ist das Modell zum Selberzusammenbauen bestellt. Was er heimlich auf dem Hausdach tut.

Michel ist ein Träumer, von seiner Umwelt als solcher toleriert, weil er sich bisher mit kleinen Umsetzungen seiner Phantasien zufrieden gegeben hat, mit einer Sammlung von Flugzeugmodellen und Plakaten. Wird die Reise im Kajak den grossen Ausbruch markieren? Daran darf der Zuschauer ernsthafte Zweifel hegen, zu wenig erscheint ihm der Protagonist als Mann der Tat. Einer wie er könnte bei Trips jener Art, wie sie Robert Redford jüngst in [art:all-lost:All Is Lost] und A Walk in the Woods unternahm, nur grandios scheitern. Und trotz dieser reduzierten Ansprüche ist Michel jemand, der sich selbst überschätzt, ein kindliches Gemüt, der das Ratgeberbuch seiner Kindheit, «Tick, Trick und Track bewältigen schwierige Situationen», auch für seine jetzige Reise als ausreichend empfindet. Und der verkündet: «Ich bin ein Equipment-Typ», der aber anders als Buster Keaton Probleme beim Umgang mit eben diesem Equipment hat, selbst wenn es sich dabei um einen solarenergiebetriebenen Antimückenanhänger handelt. Genau daraus entwickeln sich Komik und Dynamik des Films, der die Marotten seines Protagonisten nachvollziehbar macht.

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Achtzehn Jahre nach Dieu seul me voit, der ihm den César für den besten Erstlingsfilm einbrachte, ist Comme un avion der siebte abendfüllende Spielfilm von Bruno Podalydès. Nachdem er sowohl in seinen eigenen Filmen als auch in denen anderer Regisseure regelmässig kleine Auftritte vor der Kamera absolvierte, hat Bruno Podalydès in Comme un avion erstmals die Hauptrolle übernommen, etwas, was er sonst bereitwillig seinem jüngeren Bruder Denis überliess (der hier seinen Bruder und Chef verkörpert), hier aber wegen seiner eigenen Begeisterung für das Kajakfahren selber machen musste, wie er im Gespräch verriet.

Michel ist ein Zauderer; dass er sein Boot wirklich zu Wasser lässt, dazu trägt seine Ehefrau Rachelle entscheidend bei – nicht ohne seine Träume dabei ein Stück weit an die Wirklichkeit anzupassen. Verkündet er selbstbewusst, er wolle «zum Meer», kontert sie: «Das dauert zwei Monate – und du hast nur eine Woche Urlaub genommen.» Und als er beim ersten Problem (er bleibt an einem Baumstamm hängen) gleich Rachelle anruft, die ihn mit dem Auto freischleppt, und sie sich anschliessend ein Picknick gönnen, muss sie ihn erst ermahnen, doch endlich aufzubrechen, so sehr geniesst er ganz offensichtlich den Augenblick einer harmonischen Ruhe. Was hat es mit dieser Beziehung auf sich? Das fragt sich der Zuschauer angesichts des Verständnisses, das Rachelle für die Macken ihres Mannes aufbringt. Liegt der Schlüssel in jener Szene, die die beiden beim abendlichen Zähneputzen im Badzimmer zeigt? Von hinten aufgenommen, stehen sie da nebeneinander, die Spiegelbilder sind in zwei separaten Spiegeln zu sehen. Das vermittelt den Eindruck einer gewissen Distanz – ein durchaus zutreffender Eindruck, wie man später erfahren wird.

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Nicht mehr als vier Kilometer hat Michel zurückgelegt, als er am Abend an Land geht und sein Zelt aufschlägt. Das Landgasthaus, auf dessen Gelände er sich befindet, lädt zum Verweilen ein: eine kleine Gemeinschaft, in der viel geredet und viel Absinth getrunken wird, in der die Frauen diejenigen sind, die zupacken, und die Männer liebenswerte Sonderlinge, deren Tätigkeiten nicht so zielgerichtet sind, wie sie uns glauben machen wollen. Dass Michel bald mit der jungen Kellnerin Mila und mit der älteren Besitzerin Laetitia anbändelt, vermittelt ein neues Bild von ihm: Sollte er vielleicht nur die richtige Umgebung benötigen, um sein Phlegma zu überwinden und sich entfalten zu können?

Comme un avion ist ein Film, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Dass sein lakonischer Humor, der ihn so anstrengungslos wirken lässt, genau austariert ist, unterstreicht der Film mit einer selbstreferenziellen Szene. Von einem Wachmann beim Zelten auf einem Privatgrundstück ertappt, weist dieser Michel auf die Überwachungskamera an seinem Kopf hin, die das Geschehen (als Bild, aber ohne Ton) live in die Zentrale übertrage. «Tun Sie verärgert!» Als Michel daraufhin in Stummfilmmanier mit grossen Gesten reagiert, meint er: «Jetzt übertreiben Sie!» Die Komik dieses Films ist eine der leisen Art, Slapstick reduziert sich auf den Running Gag mit einem mürrischen Angler (das Cameo eines bekannten Schauspielers).

Am Ende steht ein fragender Blick. Wird sich Michel wieder in den Trott in der Firma und in der Ehe einfügen – oder aber zurückkehren zu Laetita, die nicht nur sein Herz, sondern auch das des Zuschauers gewonnen hat? Ist doch die Interaktion zwischen den beiden, zwischen Bruno Podalydès und Agnès Jaoui, in ihrer abgeklärten Ungezwungenheit das Herzstück des Films.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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