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The Revenant

Alejandro G. Iñárritus The Revenant fokussiert auf die spektakuläre Darstellung des Überlebenskampfs des von einem Bär schwerst verwundeten Trappers Hugh Glass in der eisigen Einsamkeit. Selten liessen sich im Kino Naturgewalten derart hautnah miterleben. Dank der Kraft seiner Bilder überzeugt The Revenant als ästhetische Erfahrung auch dort, wo Iñárritu dramaturgisch an den eigenen Ambitionen scheitert.

Text: Oswald Iten / 06. Jan. 2016

Ganz langsam bewegt sich ein abstrakt pulsierendes Atemgeräusch durch atmosphärische Naturlaute hindurch aus dem Zuschauerraum zur Leinwand und zieht uns in die innere Welt des Protagonisten Hugh Glass. Ebenso langsam blenden Erinnerungen an dessen Pawnee-Frau und den gemeinsamen Sohn Hawk in Zeitlupentableaux auf, die von indianischen Voice-over-Beschwichtigungen umflüstert werden.

Erst nach dieser metaphysischen Ebene wird die äussere Realität von Alejandro G. Iñárritus ambitiösem Trapper-Epos The Revenant über einen meditativen Blick ins fliessende Wasser eingeführt. Mit der bei Birdman perfektionierten Technik enthüllt Emmanuel Lubezkis unwirklich schwebende Steadicam in einer einzigen ungeschnittenen Bewegung die im Wasser stehenden Bäume, lässt den Protagonisten und seinen Sohn als Jäger mit den Gewehren voran ins Bild waten und nimmt zeitweilig Hawks Subjektive ein, um schliesslich von den angepeilten Elchen im Moment des Schusses zu einer Nahaufnahme von Glass’ Gesicht zu gelangen.

Im Gegensatz zu Birdman wenden Iñárritu und Lubezki solche Kraftakte diesmal fast ausschliesslich in intensiven Szenen an, deren Drastik dadurch noch gesteigert wird. Ihre volle sogartige Wirkung entfalten die ungewohnt tiefenscharfen Bilder der hochauflösenden Digitalkamera freilich nur auf einer Leinwand, die so breit ist, dass die bewegungsbedingte Weitwinkelverzerrung am Bildrand nur peripher wahrgenommen wird.

Der visuelle Hyperrealismus passt durchaus zum schonungslos fiktionalisierten Tall Tale über den historisch verbürgten Tracker Hugh Glass, der 1823 auf einer Expedition der Rocky Mountain Fur Trade Company von einem Bären zerfleischt wurde und sich über 300 Meilen in sechs Wochen alleine zurück ins Leben kämpfte, um jene zu stellen, die ihn liegengelassen und beraubt hatten.

Der Sohn als Antrieb

Entgegen Iñárritus Beteuerung, der Racheaspekt habe ihn nicht interessiert, versucht der Film mit beträchtlichem Aufwand, ausgerechnet dieses Element der Geschichte anhand der Vater-Sohn-Konstellation emotional zu unterfüttern. Innerhalb der Trappergruppe leidet der Pawnee-Mischling Hawk vor allem unter John Fitzgerald, der Glass’ Autorität in ständiger Angst vor den Arikara – Arikaree oder schlicht Ree genannt – von Anfang an infrage stellt.

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Besonders gefährlich ist der von Tom Hardy mit irrem Blick verkörperte Schuldner deshalb, weil er ausser seiner Handelsware nichts zu verlieren hat. Als Hawk in einer Verschnaufpause gegen Fitzgeralds rassistische Anfeindungen aufbegehren will, befiehlt ihm der Vater harsch, «unsichtbar» zu bleiben: «Sie werden deine Stimme nicht hören, sondern nur die Farbe deines Gesichtes sehen.» Wo ihm das Drehbuch wie hier die Möglichkeit dazu bietet, lässt Leonardo DiCaprio die tiefliegende Angst aufblitzen, von der auch Glass getrieben ist. Zunehmend stellt sich allerdings der Verdacht ein, Iñárritu und sein Kodrehbuchautor Mark L. Smith hätten Hawk hauptsächlich dazu erfunden, den Durchhaltewillen des Liegengelassenen zu motivieren. Nun haben zwar auch Jack DeWitt und Richard C. Sarafian, die den Stoff 1971 als Man in the Wilderness verfilmten, ihrem Protagonisten einen Sohn angedichtet. Dort gibt die Erinnerung an das einst verleugnete Kind dem Überlebenden jedoch die Kraft, die Rache zugunsten eines neuen Lebens als Vater aufzugeben.

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Nach dem brutalen Bärenangriff bleibt in The Revenant neben Hawk und dem jungen Jim Bridger ausgerechnet Fitzgerald an der Seite des schwer verwundeten Glass zurück. Nachdem der vom Tod faszinierte Regisseur in Biutiful (2009) einen sterbenden Vater just solange am Leben gehalten hat, bis dieser seine Kinder in sicherer Obhut wusste, lässt er Glass nun in The Revenant auf eine Bahre gebunden mitansehen, wie Fitzgerald seinen Sohn in übertriebener Notwehr ermordet. Diese melodramatische Umkehrung wirkt sich jedoch fatal auf die Dramaturgie aus. Weil die enge Beziehung zu Hawk bis zu diesem Zeitpunkt anhand von Sätzen wie «du bist mein Sohn» lediglich behauptet wurde, will sich die Höllenqual des schäumenden Vaters trotz Leonardo DiCaprios erschütternder Intensität nicht recht auf den Zuschauer übertragen. Zudem hat Glass jetzt zwar einen emotionalen Grund, sich an Fitzgerald zu rächen, weil es aber keinen Sohn zu retten gibt, verweigert ihm das Drehbuch viel zu früh das Potenzial zur inneren Entwicklung.

Dafür steht der junge Jim Bridger vor einem jener Dilemmen, die Iñárritus frühere Filme trotz ihrer Konstruiertheit derart packend machten. Einerseits will er den offensichtlich lebendigen Glass nicht hilflos im Schnee liegen lassen, anderseits ist er von der Gunst des älteren Fitzgerald abhängig, der ihm schon einmal das Leben gerettet hat. Diese Abhängigkeit wirkt wie das Zerrbild einer Vater-Sohn-Beziehung, wobei Fitzgerald seine Schuldgefühle in perfider Weise auf den eloquent schweigenden Jungen abschieben will.

Ästhetische Überwältigung

Doch The Revenant fokussiert vor allem auf die spektakuläre Darstellung von Glass’ Überlebenskampf in der eisigen Einsamkeit. Heimgesucht von den immer gleichen Visionen seiner massakrierten Familie nimmt DiCaprio in seiner körperlich wohl anspruchsvollsten Rolle mit zunehmendem Erstarken selbst die Statur eines Bären an. Wie schon die verstörende Beliebigkeit des initialen Bärenangriffs gezeigt hat, setzt Iñárritu seinen Protagonisten in einer hiobsmässigen Flut von Gefahren und Rückschlägen erfreulicherweise nicht der Feindseligkeit, sondern der demuteinflössenden Gleichgültigkeit der Natur aus. Visuell lässt der tiefe Horizont die Berge und Bäume umso höher erscheinen. Gleichzeitig vermittelt der wiederkehrende Blick in die wogenden Baumwipfel jenes schwindelerregende Taumeln, das Glass’ Frau aus dem Off beschwört: «Wer nur die Äste der Bäume betrachtet, könnte schwören, dass sie fallen. Wer hingegen den Stamm anschaut, der sieht ihre Stabilität.»

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Selten liessen sich im Kino Naturgewalten derart hautnah miterleben wie in The Revenant. Da stört es auch kaum, dass man sich als Zuschauer immer wieder beim ästhetischen Staunen über die Perfektion der filmischen Überwältigungsmechanik ertappt und sich auch schon mal fragt, wie dieser in seiner Unmittelbarkeit schon wieder distanzierende Realitätseindruck überhaupt fabriziert werden konnte. Scheinbar sind sich Iñárritu und Lubezki dieses Effekts durchaus bewusst. Schliesslich kratzen sie da und dort an der sorgfältig aufgebauten Illusion, indem sie beispielsweise DiCaprios Atem das Objektiv beschlagen lassen und damit auf die Präsenz einer Kamera hinweisen. Gekonnt wird dieser Effekt jedoch sogleich für einen assoziativ montierten Schauplatzwechsel über wolkenverhangene Berge zum Rauch aus Fitzgeralds Pfeife genutzt.

Authentizität und magischer Realismus

Parallel zu Glass' Jagd nach Fitzgerald geistert eher schemenhaft ein ebenso verbitterter Arikara auf der Suche nach seiner geraubten Tochter durch die Wildnis. Obwohl wir dank Untertiteln alle Äusserungen der Ureinwohner verstehen, tragen diese weniger zur Konturierung der schemenhaften Arikara als zum angestrebten Authentizitätseindruck bei. Einen entscheidenden Beitrag zur realistischen Darstellung des gnadenlosen Trapperalltags leisteten die Kostümbildnerin Jacqueline West sowie der Production Designer Jack Fisk, die beide schon für Terrence Malicks The New World (2005) eine Epoche bis ins letzte Detail auferstehen liessen. Wieder errichtete Fisk in der Wildnis komplette Sets, die man aus jedem Winkel filmen konnte. Wegen der unverwechselbaren Handschrift von Malicks Kameramann Lubezki erinnert The Revenant auch visuell an die 200 Jahre früher angesiedelte Pocahontas-Verfilmung.

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Beide Werke sind fast ausschliesslich mit natürlichem Licht gedreht, wobei Lubezki hier von seiner Erfahrung mit Malick profitierte, der seine improvisierenden Schauspieler am liebsten im Gegenlicht filmt. Iñárritu und Lubezki haben den Sonnenstand und das Gegenlicht nun exakt in ihre komplex choreografierten Szenen eingeplant. Die Präzision der kunstvoll komponierten Massenszenen ist umso erstaunlicher, angesichts der Tatsache, dass für die meisten Aufnahmen täglich nur 90 Minuten brauchbares Licht zur Verfügung stand.

Zwar greift Iñárritu mit Wasser, Vögeln und natürlichen Spiralen vordergründig auf eine ähnliche Motivik zurück wie Malick. Sein magischer Realismus unterscheidet sich dagegen deutlich vom Erzählstil des zurückgezogenen Amerikaners. Während Malicks impressionistische Bilder in der Montage von Pocahontas’ Sterbeszene ihre Mehrdeutigkeit behalten, ist der überscharfe Surrealismus von Glass’ Erinnerung an seine Frau oft mit allzu eindeutiger Symbolik aufgeladen, etwa wenn der Brust des leblosen Körpers ein Vöglein entschlüpft.

Im Gegensatz zur dominant eingesetzten Klassik bei Malick steht die klangflächenartige Hintergrundmusik von Ryuichi Sakamoto, Carsten Nicolai (aka alva noto) und Bryce Dessner in The Revenant selbst in lauten Momenten klanglich weit hinter der Geräuschespur. Nur ganz selten rücken konturiertere Streicherpassagen in den Vordergrund, beispielsweise als sich in einer besonders gelungenen Traumsequenz vermeintliche Höhlenmalereien als Teil einer zerstörten Kapelle entpuppen, deren tonloses Glöcklein in Zeitlupe hin und her schwingt.

Noch stärker als in den Naturdarstellungen erinnern Lubezkis kristallklare Digitalbilder hier an zeitgenössische Gemälde wie Caspar David Friedrichs «Klosterfriedhof im Schnee» von 1819. Dank der Kraft solcher Bilder überzeugt The Revenant als ästhetische Erfahrung auch dort, wo Iñárritu dramaturgisch an den eigenen Ambitionen scheitert. Der heilige Ernst hingegen lässt nicht einmal nach, als sich der formale und inhaltliche Kreis mit der letzten Einstellung am Wasser schliesst und sich über der schwarzen Leinwand die keuchenden Atemgeräusche langsam beruhigen und normalisieren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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