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Wild Plants

Was der Erde entstammt, das sollte man ihr wieder zurückgeben. Ökologische Aktivisten in Europa und Nordamerika praktizieren alternative Lebensmodelle – mit historischen Wurzeln und Blick in die Zukunft.

Text: Michael Pekler / 26. Okt. 2016

Anfang Oktober schaffte es der New Yorker Aktivist Rob Greenfield in die Schlagzeilen, indem er bereits seit zwei Wochen seinen Müll am Körper trug. Zu sehen war der Abfall in durchsichtigen Beuteltaschen, in denen alles – bis auf organische Reste – landete, was unsereins im Abfallcontainer verschwinden lässt. Zur Halbzeit der für vier Wochen anberaumten Aktion «Trash it» hatte Greenfield schon ordentlich zu schleppen, lachte aber immerhin noch in die Kameras.

Wild Plants von Nicolas Humbert wird es nicht in die Schlagzeilen schaffen. Denn obwohl er ein ähnliches Anliegen verfolgt – nämlich die Bewahrung und Wiederinstandsetzung natürlicher Ressourcen – ist Humbert ein zurückhaltend beobachtender Dokumentarist. Und obgleich sich auch seine Aktivisten für ein ökologisches Recycling starkmachen («The food is the bonus, not the thing», meint einer), sind sie im Gegensatz zu Greenfield eher schweigsam und bleiben für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar. Gleich zu Beginn sieht man eine Reihe stummer Gesichter direkt in die Kamera blicken. Und man weiss sofort, dass der «Pakt mit der Natur» dieser Menschen länger dauert als vier kurze Wochen.

Allerdings dauert es auch eine ganze Weile, bis man sich als Zuschauer in Wild Plants zurechtfindet. Was haben ein über Eisschollen schlitternder Hund und die Hände, die einen kleinen Vogel umschliessen, gemeinsam? Was der grosse Baum, der zu Beginn wie ein schwarzer Riese gefällt wird, mit dem Mann, der sich nächtens auf Verkehrsinseln herumtreibt und ­Blumensamen streut? Bevor in diesem Film ein erstes Wort gesprochen wird – und noch später von Humbert überhaupt eine erste Frage gestellt –, greift Wild Plants auf derartige Impressionen zurück. Damit steht allerdings auch fest, dass dieser Film sein Thema nicht didaktisch vorträgt, sondern versucht, es über verdichtete Szenen und Momente erfahrbar zu machen.

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Ersichtlich wird dieser Weg auch daran, dass Humbert seine Protagonisten nicht vorstellt und die Schauplätze abrupt wechselt. Man ist also auf das angewiesen, was man unmittelbar zu sehen und zu hören bekommt – keine schlechte Methode für einen Film, in dem es um «Transformation» geht. Um die Umformung des Bodens also, um den endlosen Zyklus der Natur, zu der alles wieder wird, was ihr an Lebendigem entstammt: Tiere, Menschen, Pflanzen.

Es geht also um das Leben und den Tod, um das, was man dem Boden abgewinnen kann und ihm wieder zurückgeben soll, um Gartenkollektive und einzelne Gärtner, um ein wenig Philosophie und Ideologie, um Religiosität und Spiritualität, um Tradition, Transzendentalismus und schmutzige Finger. Das ist in der Summe recht viel, weshalb Wild Plants sein Thema in erster Linie als Gegenbewegung beschreibt: Man beobachtet in der Romandie die Agrargemeinschaft Jardin de Cocange, die sich als Résistance der Nachhaltigkeit betrachtet, man begleitet einen indianischen Aktivisten, der von seiner Verwurzelung und dem Erbe seiner Ahnen berichtet, und man besucht den Zürcher Sämann Maurice Maggi, der von seinem «Pakt mit den Pflanzen» erzählt und zu seinem Guerilla Gardening spekuliert, dass die Stadt wohl in zehn Jahren überwuchert sein dürfte, würde man der Natur ihren freien Lauf gewähren (ein Szenario, das übrigens Nikolaus Geyrhalters jüngster Dokumentarfilm Homo Sapiens skizziert).

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Was Wild Plants jedoch nicht zeigt, ist, wie diese unterschiedlichen Sichtweisen tatsächlich gelebt werden beziehungsweise wie sie den Alltag dieser Menschen bestimmen. Das Verbindende ist denn auch weniger eine gesellschaftspolitische Haltung – ­Maurice Maggi bezeichnet seine Pionierpflanzen immerhin als «gesellschaftspolitische Gesinnungsgenossen» –, sondern eine Lebensstärke. Was Humbert zwischen Detroit, Wounded Knee und Zürich findet, sind ein Selbstbewusstsein und ein Stolz, sich für etwas Sinn­erfüllendes – und in gewisser Weise wohl auch Sinnvolles – entschieden zu haben, das nicht der Norm entspricht. Vielleicht sind die spannendsten Momente auch deshalb solche wie jener, in dem eine der Frauen erzählt, dass sie über die Beschäftigung mit dem Erdboden – und damit dem Leben – auch Trost gefunden habe, dass der Tod nicht ewig auf sich warten lasse. Um plötzlich eine scheinbar endlose Minute lang zu verstummen. In diesen seltenen Augenblicken gewinnt Wild Plants dem Leben tatsächlich etwas Wahrhaftiges ab.

Von Henry David Thoreau, dessen Porträt gegen Ende nur schemenhaft durch den Film geistert und wohl als unsichtbarer geistiger Ahnherr fungieren soll, gibt es einen Essay mit dem Titel «Vom Spazieren». Der «Zerfall der Pflanzen soll einen Humus für die ferne Zukunft bilden», so Thoreau in seiner schmalen Lesewanderung. Wie Thoreau macht sich Wild Plants ohne klare Richtung vor Augen auf den Weg, hält im Gegensatz zum grossen Schriftsteller und Philosophen jedoch nur Eindrücke und Stimmen fest.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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