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Finsteres Glück

In der Verfilmung von Lukas Hartmanns Roman wird ein traumatisierter Achtjähriger, dessen Familie bei einem Autounfall ums Leben kam, von einer Psychologin zum Erlöser stilisiert.

Text: Lukas Stern / 16. Nov. 2016

«Die Bilder des Isenheimer Altars – aus psychologischer Sicht» titelt das Buch, das die Therapeutin Eliane Hess gerade veröffentlicht hat und auf das sie ungeheuer stolz ist. Auf dem Wandelaltar sieht man beispielsweise die Kreuzigung Christi abgebildet, man sieht auch dessen Auferstehung oder ein Engelskonzert, in das der Teufel hineinspielt. Mit einer Auseinandersetzung aus psychologischer Sicht liesse sich auch Stefan Haupts Film begegnen – es scheint sogar der naheliegendste Reflex zu sein, ist es doch die Perspektive der Psychologin, mit und in der sich der Film entfaltet.

Bei einem Autounfall verliert der achtjährige Yves seine Eltern und seine beiden Geschwister. Eliane wird ins Krankenhaus gebeten. Sie soll sich um den Bub kümmern, ihn begleiten bei dem, was bald mit urkatastrophischer Gewalt auf ihn zugerollt kommt. Ihr Blick ist steif, als sie das Zimmer betritt; er soll Stabilität stiften, aber zugleich wird in ihm auch dieses monströse Verhältnis offenbar – zwischen einem Kind, das all das nicht begreifen kann, und einer Therapeutin, die abschätzen kann, was all das Nichtbegreifen bedeuten wird. An einer späteren Stelle im Film spielt Yves mit einem Playmobilauto und setzt die Figuren ins Fahrzeug – die Mama, den Papa, sich selbst. Zwei Polizisten sitzen mit im Raum, während der Junge das Spielzeug über den Boden an die Wand rollen lässt; sie ermitteln den Unfallhergang, ein erweiterter Suizid steht als Verdacht im Raum.

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Eliane soll ein psychologisches Gutachten erstellen, um zu klären, wo das Kind in Zukunft leben soll. Sie selbst hat zu Hause zwei Töchter von zwei verschiedenen Männern. Die ältere zeigt ein besorgniserregendes Selbstverletzungsverhalten, die jüngere steckt in der Pubertät und rebelliert permanent gegen ihre Mutter. Auch in dieser Familie gibt es einen Todesfall, der noch verarbeitet werden will; auch diese Familie ist eine in erster Linie in Störungsmustern bestehende. Selbstredend, dass alle diese Sensibilitäten nur umso deutlicher und umso problematischer hervortreten, sobald der kleine Yves in diesen Haushalt mit aufgenommen wird. Dort lasse er sich besser psychologisch beobachten, meint ein Arzt.

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Aus psychologischer Sicht – daran besteht kein Zweifel – kann dieser Film bis in den letzten Winkel hinein zerlegt und kaputtinterpretiert werden. Sein Realismusanspruch könnte in Ausbildungsseminaren für angehende Therapeuten geprüft werden. Die psychologische Sicht aber läuft Gefahr, den Film als blosses Anschauungsmaterial für die eigenen Fragestellungen zu reduzieren, zu vergessen, dass hier eben nicht die nackte, klinische Wirklichkeit aus der Leinwand strahlt, sondern eine ästhetische Hervorbringung, deren Realismus mit dieser Art von Wirklichkeit nicht deckungsgleich sein muss. Vielleicht lohnt es sich deshalb, den Reflex umzukehren und die Psychologie aus filmischer Sicht zu befragen. Eines und womöglich Ausschlaggebendes fällt vielleicht nur auf, wenn man die Frage in diese Richtung dreht. Nämlich, dass Finsteres Glück mit leinwandfüllenden Partien der Altargemälde und mit John Sheppards Choral «Media Vita» beginnt. Den ersten Blick auf all das, was geschehen wird, was wir sehen werden und was man psychologischen Realismus nennen kann, wirft die religiöse Kunst, und zwar tief aus ihrer Geschichte heraus. Zwischen den in Öl gemalten Szenen und dem verheerenden Schicksal eines kleinen Jungen besteht ein fundamentaler Zusammenhang – das ist die Behauptung der einleitenden Sequenz; zugleich ist es auch die Bruchlinie des zugrunde liegenden Ro­mans von Lukas Hartmann. Aber es ist ein prekärer Zusammenhang: Geht es um sakrale Überhöhung? Um christlichen Opferkult? Um eine Aktualisierung der Passionsgeschichte? Eine Sonnenfinsternis markiert die Umbruchstelle vom Sakralen ins Profane. Yves ist wie besessen von der Erinnerung an die Eklipse, die er mit seiner Familie erlebte; gleichzeitig geht die Lichtstimmung der gemalten Kreuzigungsszene ebenso auf eine solche zurück. Aber auch hier bleibt die Relation diffus. Die Verfinsterung ist beides zugleich: göttlich angestrengtes Geschehen und messbar planetarisches Phänomen.

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Später sehen wir Eliane in gedehnter Zeitlupe unter der Dusche – eine Szene, die nicht nur an Lars von Triers Antichrist erinnert, sondern diesen geradezu heraufbeschwört. Der Film vermeidet es, diese Zusammenhänge zu explizieren – es geht ihm nicht um simple Zitation, erst recht nicht um ironische Bezüge. Es ist die Bewegung selbst, die zentral ist; das Ausfransen des Films in andere Kunstwerke, in andere Bedeutungshorizonte und andere Ausdrucksregister. Eine Bewegung zum schlechthin Anderen. Mit Recht lässt sich die Geschlossenheit der Ursache-­Wirkung-Symp­tom-Systeme kritisieren, in denen sich der psychologische Realismus dieses Films nicht selten zeigt. Es wäre die Kritik der Psychologen selbst, denn diesen Systemen lastet stets etwas Stereotypes, Klischiertes an. Aber ganz genügt sich Finsteres Glück selbst nicht in diesem Realismus. Denn Malerei und Musik öffnen das allzu Geschlossene wieder. Hinein ins Unbestimmte – dorthin, wo das eigentliche Interesse der Psychologie liegt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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