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Vergine giurata

Das Leben der Frauen in den nordalbanischen Bergen ist hart. Nach dem herrschenden mittelalterlichen Gewohnheitsrecht haben sie keine Rechte. Zwei Wege führen in die Freiheit: die Flucht ins Ausland oder das Leben als «eingeschworene Jungfrau». Alba Rohrwacher verändert sich in der Rolle dieser Mann gewordenen Frau auf ihrem Weg zurück zu ihrem weiblichen Körper in Millimeterarbeit.

Text: Tereza Fischer / 15. Mär. 2016

Mitten in eine halb ausgelassene, halb anstrengende Jagd auf eine Ziege holt uns die Kamera, die selbst auch schon ausser Atem zu sein scheint, in eine kalte Welt hinein. Sie folgt ganz nah einer Frau, schwankt und wird dabei selbst physisch spürbar. Körperlichkeit und Freiheit, wie sie sich das störische Tier erkämpfen will, sind auch die Hauptmotive in Vergine giurata.

Alba Rohrwacher spielt die zierliche Frau in Jeans und mit kurzen Haaren, die zusammen mit zwei Männern versucht, die Ziege einzufangen. Eine Männerarbeit, wie wir später erfahren werden. Die Frau lebt offenbar allein und einsam in den Bergen. Dieses Leben breitet sich in kurzen, stillen Momentaufnahmen als unzusammenhängende Puzzleteile vor uns aus. Gesprochen wird wenig, nicht nur am Anfang. Laura Bispuri vertraut in ihrem Debütfilm den Bildern. Und den Zuschauerinnen und Zuschauern. Sie müssen die Informationslücken mit ihrer Phantasie und imaginativen Empathie füllen. Der Film lädt dazu ein, sich in eine Figur hineinzuversetzen, über die man wenig weiss, der man aber sehr nahe kommt.

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Warum fährt die Frau aus Albanien nach Italien? Warum nennt sie sich Mark und gibt sich als Mann aus? Was will sie im fremden Land? Diese Frage bekommt Mark auch von Lila zu hören und lässt sie unbeantwortet. In einer Serie von Rückblenden entfaltet sich die Vergangenheit von Lila und Mark, der damals noch Hana hiess. In den nordalbanischen Bergen wird die verwaiste Hana von Lilas Familie aufgenommen und liebevoll als Tochter erzogen. In diesem abgeschiedenen Teil der Welt gilt der Kanun, ein mittelalterliches Gewohnheitsrecht, das strikt das Zusammenleben regelt und zu dem auch die Blutrache gehört. Hier haben die Frauen nahezu keine Rechte und schon gar keine Freiheiten, dafür viele Lasten zu tragen. Die meisten werden wegen des harten Lebens nicht älter als sechzig. Junge Frauen werden verheiratet, mit verbundenen Augen zu ihrem Bräutigam geführt, damit sie nicht nach Hause zurückfinden. Der Mann bekommt eine Patrone als Mitgift, mit der er die Frau erschiessen kann, wenn sie nicht gehorcht.

Aus dieser frauenfeindlichen Welt führen zwei Wege heraus: Lila hat sich für die Flucht mit ihrem Geliebten nach Italien entschieden, wo sie nun eher schlecht bezahlter Arbeit nachgeht und eine Teenager-Tochter aufzieht. Hana hat einen Weg gewählt, der Frauen innerhalb der traditionellen albanischen Gesellschaft gewisse Freiheiten ermöglicht: Sie hat geschworen, ewig Jungfrau zu bleiben und damit ihre sexuelle Identität aufzugeben. Als Mark trägt sie Männerkleider und kurze Haare, darf mit den anderen Männern Raki trinken und ein Gewehr tragen. All dies entfaltet Bispuri als eine Reihe von in kühles Blau getauchte Flashbacks und zeichnet so die Wandlung von Hana zu Mark nach.

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In Italien entdeckt Hana/Mark millimeterweise ihren weiblichen Körper wieder, den sie von den Fesseln der Verstellung und Verkleidung befreit. Rohrwacher gelingt diese Metamorphose in unaufälligen Gesten und mikroskopischen Veränderungen der Körperhaltung. Ihr fragiles Äusseres lässt keinen Zweifel daran, dass die Hauptfigur weiblich ist. Ihre Haltung und Kleidung sorgen jedoch für einen Kippeffekt zwischen dem Bild eines Mannes und dem einer Frau, aus dem ein Weder-Noch entsteht. Ein Mensch, der nicht recht weiss, wo er hingehört und wer er ist. «Wer bist du?», fragt ungeniert Lilas Tochter Jonida ihren «Onkel Mark». «Bist du schwul oder eine als Mann verkleidete Lesbe?» Hana/Mark kann darauf nicht antworten.

Den Körper entdeckt Hana/Mark im Hallenbad, den eigenen, aber auch fremde Körper. Jonida trainiert mehrmals pro Woche Synchronschwimmen, einen Sport, der die perfekte Gleichschaltung als höchste Kunst zelebriert. Auf der anderen Seite hält die Kamera in einer ausgedehnten Szene im Hallenbad Hanas Blick auf die unterschiedlichsten Körper fest: alte, junge, muskulöse, tätowierte, bleiche, dunkelhäutige. Neben der perfekten Gleichheit der jungen Sychronschwimmerinnen entdeckt Hana die Diversität. Vor allem aber entdeckt sie auch Begehren und körperliche Nähe. Die Beziehung zum grossgewachsenen Bademeister wird bruchstückhaft erzählt, die kurzen Begegnungen entfalten jedoch ihre Wirkung. Eine grossartig subtile Szene vermittelt die aufblühende Anziehung. Während Jonida als letzte am Abend noch ihre Längen zieht, streift sich der Bademeister das T-Shirt ab und beginnt aufzuräumen. Dabei beobachtet ihn Hana, läuft unauffällig an ihm vorbei, um sich vor dem Ausgang die Schuhe anzuziehen. Die beiden bleiben im Hintergrund an gegenüberliegenden Bildrändern, ohne sich zu beachten. In einer langen Einstellung, die nah und halbsubjektiv beginnt und in einer distanzierten Totalen endet, sind die Figuren wie zufällig zusammengehalten, als Randgestalten. Auch die Kamera scheint das Beiläufige der Figuren aufzunehmen. So folgt die Kamera Jonida, lässt kurz den Hintergrund aus dem Blick, um bald wieder die Frage noch dringender zu stellen, was da eigentlich zwischen den beiden geschieht.

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Zuvor wollte Hana von Lila wissen, wie sich Sex anfühlt. Mit dem athletischen Mann wird sie ihre ersten Erfahrungen machen, erst auf dem Männerklo, dann im Keller. Was ihn an diesem in sich gekehrten Wesen, das weder Mann noch Frau zu sein scheint, interessiert, bleibt im Dunkeln. Dass da möglicherweise eine Beziehung aufblüht, deutet ganz beiläufig Hanas Vorsatz an, «Bernhard in die Augen zu schauen».

Vergine giurata wirkt trotz eines eigentlich dramatischen Stoffes nie schwermütig oder beklemmend, nie laut oder rührselig. Bispuri hat den gleichnamigen Roman zusammen mit dessen Autorin, der in die Schweiz geflohenen Albanerin Elvira Dones, adaptiert und den leichten Ton beibehalten. Vor allem dank Rohrwacher vermag die wortkarte Protagonistin zu berühren. Am Ende der inneren und äusseren Freiheit näher zu sein als Lila und ihre Familie. Frei von den Zwängen ihrer Herkunft, aber auch noch frei vom Leistungsdruck und der Gleichschaltung der modernen Gesellschaften: «Mir sagte mal jemand, dass man freier sei, als man denkt. Frei, etwas nicht zu tun.»

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