Filmbulletin Print Logo
Belgica lobby 27 0x18 0cm 300dpi 5943

Belgica

Kann ein Kinofilm den Clubbesuch ersetzen? Das Drama Belgica dreht sich um das ungleiche Brüderpaar Jo und Frank, die eine alternative Kneipe zum angesagtesten Tanzlokal der Stadt umwandeln. Nach einem rasanten Aufstieg kommt jedoch der vorporgrammierte Fall. Anfänglicher Idealismus wird zu Kapitalismus und es ist fraglich, ob die beiden Brüder es schaffen, den Club gemeinsam zu führen.

Text: Flavia Giorgetta / 07. Mär. 2016

Kann ein Kinofilm den Clubbesuch ersetzen? Das fragt sich unweigerlich, wer das Drama Belgica schaut. In der titelgebenden Bar ist ganz Belgien willkommen, und so soll es auch bleiben, als der junge Besitzer Jo die alternative Kneipe in einen Tanzschuppen verwandelt. Dabei hilft ihm sein Bruder Frank, der sich ins Genter Nachtleben stürzt, um vor seiner Frau und seinem Kleinkind in der Provinz zu flüchten. Als die Brüder zum ersten Mal Kokain sniffen und jemand sagt: «Tu das nicht, das ist der Anfang vom Ende», ist klar, was uns erwartet: der rasante Aufstieg und vorprogrammierte Fall zweier ungleicher Brüder. Das Belgica zieht mit coolen Rockkonzerten halb Belgien an, doch mit der Masse kommt die Gentrifizierung: Frank will Türsteher einstellen, wogegen sich Jo zuerst wehrt. Schliesslich aber siegt der Geschäftssinn: Die armen Schlucker kommen nicht mehr in den Club; sie könnten sich die Getränke ohnehin nicht mehr leisten, seit Jo die Preise gesteigert hat. Der anfängliche Idealismus der Brüder weicht dem Kapitalismus, und statt Rockkonzerte steigen nun Raves.

Belgica lobby 27 0x18 0cm 300dpi 5942

Autor und Regisseur Felix van Groeningen liess sich von den Erfahrungen seines Vaters inspirieren, der in Gent den Musikclub Charlatan gründete. Die Partyszenen wirken authentisch und versetzen uns in die Neunzigerjahre zurück. Doch mit Frank und Jo hat van Groeningen ein gegensätzliches Brüderpaar geschaffen, das uns trotz all seiner Probleme kalt lässt. Jo mit seinen blonden Strubbelhaaren, auf einem Auge blind, spricht leise, lässt sich gleich zu Beginn von einer Frau abservieren und kämpft für die Offenheit seines Clubs – bis er Überwachungskameras installiert. Frank arbeitet mit einem dubiosen Gebrauchtwagenhändler, hat in der Stadt eine Liebhaberin und mehrere One-Night-Stands, und seine Fäuste sitzen locker. Die Beziehung zu seiner Ehefrau und seinem Kind bleibt diffus. Unscharf gezeichnet hat van Groeningen auch, wie Jo und Frank zueinander stehen. Einmal schimmert Zärtlichkeit auf, einmal schwelt der Konkurrenzkampf. Ein schwieriges Verhältnis zum Vater klingt an, und Jo erinnert sich, wie ihn sein grosser Bruder in der Schule vor Mobbing schlagkräftig schützte. Beide Schauspieler überzeugen: der 28-jährige Stef Aerts als Jo und besonders Tom Vermeir als Frank. Der Laienschauspieler Vermeir singt in der belgischen Band A Brand, und man sieht ihm an, dass er den Rock ’n’ Roll gelebt hat. Dennoch kommen uns die Brüder nicht wirklich nahe, was wohl auch daran liegt, dass van Groeningen sich nicht auf einen der beiden konzentriert. Und daran, dass ihr Dilemma – ob sie es gemeinsam schaffen, den Club zu führen, oder sich besser trennen – die Zuschauer nicht packt. Hier werden die klischierten Rollen und die Allgemeinplätze des sex and drugs and rock ’n’ roll offensichtlich. Schon van Groeningens letzter Film, das oscarnominierte Drama The Broken Circle, war klischeebehaftet. Aber das Thema einer Kleinfamilie, in der das Mädchen an Krebs stirbt, wühlte auf, und die chronologisch vor- und zurückspringende Erzählweise steigerte die Spannung. Belgica hingegen spielt sich linear ab und wirkt mit seinen gut zwei Stunden überlang. Immerhin überzeugt – wie schon in The Broken Circle – die Inszenierung der Musik. Alle im Club live gespielten Stücke hat die belgische Rock-Band Soulwax für den Film geschrieben, ergänzt wird der Soundtrack durch Songs wie «J’aime regarder les filles» von Patrick Coutin und House-Klassikern wie «Plastic Dream» von Jay-Dee. Wenn sich die Clubbesucher dazu ihre Leiber nass tanzen, steigt förmlich der Schweissgeruch in unsere Nase. Dazu kippen die Raver so viel Bier und rauchen so viele Zigaretten, dass wir den Kinosaal mit einem leichten Kater verlassen. Doch gerade die tollen Tanzszenen verdeutlichen, was Film nicht kann: eine durchtanzte Nacht ersetzen.

Belgica lobby 27 0x18 0cm 300dpi 5941

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

05. Feb. 2019

The Kindergarten Teacher

Eine Frau meint es gut, verliert dabei jedes Mass und wird zur Gefahr. Ein kleiner, beklemmender Film mit einer grossen Maggie Gyllenhaal.

Kino

16. Sep. 2021

Schachnovelle

Schach ist doch das Einzige, was Bartok geblieben ist, auf diesem Schiff in die Neue Welt, auf der Flucht vor den Nazis. Oder sind sie ihm näher als gedacht?