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Lesyeux 03

As I Open My Eyes

Es ist der Sommer 2010, nur wenige Monate vor der Jasminrevolution in Tunesien. Die junge, lebenshungrige Farah singt in einer Rockband, trägt knallroten Lippenstift und trinkt in Männerbars Bier. Mit ihren leuchtenden Augen scheint die 18-Jährige alle Widrigkeiten aus dem Weg zu lächeln. Probleme entstehen jedoch, als Farahs Mutter Hayet sie zu einem Medizinstudium zwingen will. Die junge Rebellin will davon aber nichts wissen, was zu Spannungen mit der Familie, dem Freund und dem politischen System führt und Farah unweigerlich verändert.

Text: Stefan Volk / 07. Mär. 2016

Es ist der Sommer 2010, nur wenige Monate vor der Jasminrevolution in Tunesien. Die Präsidentenporträts von Ben Ali hängen noch in den Amtsstuben von Tunis. Polizei und Geheimdienste bespitzeln, verschleppen, foltern. Die junge, lebenshungrige Farah aber mag sich davon nicht aufhalten lassen. Sie singt in einer Rockband, die traditionelle Maghrebklänge mit westlichen Punkrhythmen und Elektrosounds mischt. Ihr langhaariger Freund Borhène spielt die Elektrolaute und ist der kreative Motor der Band; ausserdem ziemlich hip und ungemein lässig. Farah knutscht nicht nur heimlich mit ihm herum, sondern die beiden schlafen auch miteinander. In einem Land, in dem jeder aussereheliche Kontakt zwischen Männern und Frauen skeptisch beäugt wird, keine Selbstverständlichkeit. Mit ihrer wilden Lockenmähne und den leuchtenden Augen scheint die 18-Jährige aber alle Widrigkeiten aus dem Weg zu lächeln. Sie trägt knallroten Lippenstift auf, lackiert sich Finger- und Fussnägel und schlägt alle Warnungen in den Wind. In einer Männerbar trinkt sie Bier und stimmt ihr Lied vom «Land aus Staub» an, dem alten, altväterlichen, beengenden Tunesien, aus dem sie – wie viele andere Jugendliche – ausbrechen möchte. Farah kommt aus gutem Haus. Ihre Eltern sind wohlhabend, lieben sie.

Dann steht eines Tages Moncef, ein ehemaliger Verehrer von Farahs Mutter Hayet, vor der Tür. Moncef hat in der von Farahs Eltern verhassten Einheitspartei Karriere gemacht, arbeitet fürs Innenministerium und warnt Hayet, ein Auge auf ihre Tochter zu haben. Hayet drängt Farah nach dem bestandenen Abitur zum Medizinstudium, obwohl Farah lieber Musikwissenschaften studieren würde. Schliesslich verbietet sie Farah aus Angst vor Repressionen weitere Auftritte mit der Band. Die junge, naive Rebellin aber will sich nichts vorschreiben lassen, sperrt die besorgte Mutter im Zimmer ein und rockt die Bühne. Hinterher passiert dann das, wovon sie schon so lange singt: Ihr werden die Augen geöffnet. Nach und nach. Schmerzlich. Borhène wird von der Polizei verhört und verprügelt. Angeblich hat Bandmanager Ali ihn verraten. Aber nicht nur in der Band, auch zwischen Farah und Borhène kommt es zu Spannungen. Er verhält sich eifersüchtig, besitzergreifend. Und dann ist Farah auf einmal verschwunden. Auch aus dem Film. Es dauert eine ganze Weile, bis sie wieder auftaucht; drangsaliert von zwei Folterknechten des Staatsapparats, Männern, die sie als junge, unangepasste Frau bedrängen, mit Händen und Worten, zur Hure abstempeln, zu Freiwild erklären, weil sie sich nicht fügt. Danach ist Farah nicht mehr dieselbe.

Lesyeux 04

Fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling, von dem heute fast alle nur noch als «sogenanntem» sprechen, kann man Leyla Bouzids sozial- und kulturkritisches Debüt durchaus als verzweifelten Aufschrei verstehen. Im Lied «Mon pays» heisst es: «Durch die Miseren dieses Landes verlieren die Leute den Verstand und suchen nach neuen Miseren, die sich von den bekannten unterscheiden.» Ein Abgesang auf den Aufbruch ist As I Open My Eyes dennoch nicht. Als ihre Tochter zu zerbrechen droht, erwacht in Hayet ein hinter der gutbürgerlich-konservativen Fassade lange schlummernder Widerspruchsgeist. Mutter und Tochter kommen einander näher: «Sing dein Lied zu Ende!»

Starke Frauen, politischer Anspruch, all das vor einem zeithistorischen Kontext mit aktuell enormer Brisanz: Was wie der massgeschneiderte Beitrag für eine Schulkinowoche klingt, ist in Wirklichkeit viel mehr. Denn wenn man alles Didaktische, Aufklärerische, Gesellschaftskritische weglässt, bleibt As I Open My Eyes noch immer ein wunderbarer, energiegeladener, überhaupt nicht trister, sondern geradezu ansteckend lebendiger Film. Das liegt natürlich an Kinodebütantin Baya Medhaffer, die in der Hauptrolle so unverschämt viel radikale, ideologiefreie und uneitle Herzlichkeit und Power ausstrahlt. Aber auch am Drehbuch von Bouzid und Marie-Sophie Chambon, das plakative Schwarzweissmalerei konsequent vermeidet. An Bouzids melodiöser, mal schnell getakteter, mal sinnlich dahingleitender Inszenierung. An Sébastien Goepferts (La vie d’Adèle) sonnendurchfluteten Aufnahmen. Und nicht zuletzt an Khyam Allamis grossartigen Songs. As I Open My Eyes bläst mit dröhnenden Bässen den Staub aus dem Arthousekino. Dieser Musikfilm pulsiert derart vor Lebenslust, dass er einfach unbändigen Spass macht. Trotz allem! Und wahrscheinlich verbirgt sich gerade darin seine eigentliche Botschaft.

Lesyeux 02

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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