Die Geträumten

Ruth Beckermann
Ein Briefwechsel, der eine Liebesgeschichte erzählt: zwischen dem Dichter Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Von Anfang an ist ihr Briefwechsel eine Kommunikation des Einander-Verfehlens. Ruth Beckermann hat vieles gestrichen, konzentriert den Blick auf das für sie Wesentliche und lässt zwei junge Schauspieler in einem Radiostudio des Wiener Funkhauses die Briefe lesen – mit der Möglichkeit des gegenseitigen Blickkontakts. Was daraus entsteht, ist ein Spiel mit doppeltem Boden.
Ein Briefwechsel, der eine Liebesgeschichte erzählt. Die Dichter Paul Celan und Ingeborg Bachmann lernen sich im Mai 1948 in Wien kennen. Er ist 27 Jahre alt, sie 21, und sie haben eine Liebesaffäre. Zeitlebens bleiben sie einander verbunden, miteinander verstrickt, auf fast schon fatale Weise mit dem anderen verkettet. Er lebt in Paris, sie in München, Neapel, Zürich, Rom … Beide sind Flüchtende. Die Beziehung, die sie miteinander führen, in Briefen und gelegentlichen Wiederbegegnungen, ist eine Konstante in ihrem Leben. Über die Jahre wird daraus ein «Liebesmartyrium» (Peter Hamm). Der Briefwechsel endet 1961. Was danach kommt, ist nur noch einseitiges Nachtröpfeln, wo Celan darum bittet, sie möge ihm mal schreiben. Antworten bleiben aus. 1967 sein letzter Versuch.
Doch schon von Anfang an ist ihr Briefwechsel eine Kommunikation des Einander-Verfehlens. Antworten, die endlos lange brauchen oder ausbleiben, oft wohl zwar geschrieben, doch nicht abgeschickt, manchmal immerhin nachgereicht als Appendix eines anderen Briefs. Mehrfach wiederholtes Anschreiben, klagend, verzweifelnd, vorwurfsvoll – und unbeantwortet. Zwei Dichterseelen, hochsensibel und überempfindlich. Zwei Liebende, die, räumlich fern voneinander, in ihren Gefühlen leben und sie in aller Tiefe ausloten, um sie zur Literatur zu machen. Auch der Briefwechsel zwischen ihnen ist Literatur. So war das schon immer mit der Poesie. Bei Goethe war das nicht anders.
So gesehen ist Ruth Beckermanns Film Die Geträumten, der auf diesem in Buchform vorliegenden Briefwechsel basiert, eine Literaturverfilmung. Doch wie verfilmt man einen Briefwechsel? Indem man einen Roman daraus macht. Der Briefroman ist eine klassische literarische Gattung. Die Briefliebe zwischen Celan und Bachmann hat eine Gefühlsintensität, die der des jungen Werther (und der des jungen Goethe) mit seiner tragisch unerfüllten Liebe zu Lotte nicht nachsteht.

Ruth Beckermann und ihre Koautorin Ina Hartwig haben ein Jahr lang daran gearbeitet, aus dem Briefwechsel eine Textfassung für den Film zu destillieren, die weite Passagen wegstreicht, um den Blick auf das für sie Wesentliche zu fokussieren. Rund 25 Textfassungen hat es nach eigenen Angaben gegeben. Mit dieser bildhauerischen Herangehensweise im Sinn einer thematischen Verdichtung geben sie der Liebe zwischen Celan und Bachmann Kontur und der Geschichte ihrer Liebe eine erzählerische Dramaturgie. Die virtuelle Briefliebe zwischen Celan und Bachmann wird so zu einer Handlungsgrundlage mit emotionalem Spannungsbogen.
Was bleibt, ist die Frage der visuellen Gestaltung. Beckermann vermeidet bewusst die historisierende Perspektive mit Darstellern von Bachmann und Celan, Briefe schreibend in «jener» Zeit. Genauso wenig kommt eine konventionelle Dokumentationsmethode mit Rückgriff auf archivarisches Bildmaterial in Betracht. Auch die Dokumentation einer Bühnenlesung ist hier nicht gefragt. Stattdessen lässt Beckermann zwei junge Schauspieler, Anja Plaschg und Laurence Rupp, ungefähr im Alter Bachmanns und Celans bei ihrer ersten Begegnung, in einem Radiostudio des Wiener Funkhauses die Briefe lesen – mit der Möglichkeit des gegenseitigen Blickkontakts.

Was daraus entsteht, ist ein Spiel mit doppeltem Boden. Die Beziehung der beiden Briefschreibenden reflektiert sich in der Beziehung der beiden Brieflesenden: eine vergangene Emotionalität, die durch Nachwirkung und Nachfühlung wiederauflebt. Zwei Zeitebenen begegnen einander: Vergangenheit korrespondiert mit Gegenwart. Und die Briefe, deren Austausch zwischen Celan und Bachmann Tage, Wochen, Monate gebraucht hat, werden jetzt zwischen den beiden Sprechern mit E-Mail-Geschwindigkeit hin- und hertransportiert.
Die Sprecher durchleben die von ihnen gelesenen Briefe mit spröder Intensität, ohne fremde Emotionen vordergründig zu simulieren. Was man sieht, sind ihre von der dialogischen Lektüre ausgelösten eigenen Emotionen: ein Katalysatoreffekt. Nicht mehr geht es nur allein um die Briefliebe Bachmanns und Celans, sondern um ein Echo im Heute, das ihre Lektüre auslösen kann. Die beiden Sprecher im Tonstudio reagieren auf das, was sie lesen, und das, was sie hören, wie auch auf die beiden emotional miteinander ringenden Dichterpersönlichkeiten, die dahinter sichtbar werden. Aber sie reagieren auch aufeinander – mit erwartenden, herausfordernden, auch verstörten Blicken (sie) und sich entziehendem oder abweisendem Nichtblicken (er). Sie nähern sich einander an oder gehen zueinander auf Distanz. Wie bei Bachmann und Celan Nähe und Ferne auch hier, als sei dies eine Projektion.
Dahinter steht ein ausgefeiltes Kamerakonzept, das sie mit Kameramann Johannes Hammel lange und bis ins Detail vorbereitet hat – mit einer szenischen Auflösung, die alle klassischen Grössen der Einstellungsdramaturgie verwendet und für subtile Perspektivenwechsel sorgt. Am eindrücklichsten immer: die Grossaufnahmen der Gesichter, der Augen, der Blicke.

Ein verdoppelter Briefroman und eine potenziell doppelte Liebesgeschichte? Die experimentelle Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann spielt mit dem Fiktionalen. Beckermann versteht diesen Film selbst als Spielfilm. Auch die Rauchpausen der Sprecher zwischen den Tonaufnahmen (auf der Aussentreppe zum Tonstudio) sind geplant, wenn auch nicht, was Plaschg und Rupp sagen und wie sie sich verhalten. Das Leitmotiv des Rauchens soll natürlich spezielle Assoziationen an Ingeborg Bachmann wecken – dazu ein biografischer Bogenschlag am Ende des Films.
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