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Heart of a Dog

Schon auf ihrem Album «Big Science» von 1982 hat Laurie Anderson ihre rätselhafte Poesie zu einem Markenzeichen entwickelt. Heart of a Dog ist eine poetische Bilderzählung, die mit viel Gefühl über die private und die gesellschaftliche Existenz reflektiert, ohne darüber vom Denken und Nachdenken zu befreien.

Text: Erwin Schaar / 15. Juni 2016

You’re walking. And you don’t always realize it,
but you’re always falling.
With each step, you fall forward slightly.
And then catch yourself from falling.
Over and over, you’re falling.
And then catching yourself from falling.
And this is how you can be walking and falling
At the same time.

Schon auf ihrem Album «Big Science» von 1982 hat Laurie Anderson ihre rätselhafte Poesie zu einem Markenzeichen entwickelt. Nicht die laute Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, sondern immer wieder das Geheimnisvolle unserer Existenz, aber darin doch protestierend die Manipulation der Macht und der Mächtigen betonend, das unterstrichen ihre sanften, elektronisch eingefärbten Klänge fast somnambul.

Wenn man nun den Abspann ihres zweiten langen Films nach Home of the Brave von 1986 abwartet, erfährt man, dass Anderson den Film ihrem Ehemann Lou Reed (1942–2013) gewidmet hat, mit dem sie seit 2008 verheiratet war und der uns mit seinem Song «Turning Time Around» rockig aus dem Kino geleitet: «Well for me time has no meaning no future no past, and when you’re in love you don’t have to ask. There’s never enough time to hold love in your grasp.»

Aber es ist kein Film über Lou Reed, es ist eine poetische Bilderzählung, die mit viel Gefühl über die private und die gesellschaftliche Existenz reflektiert, ohne darüber vom Denken und Nachdenken zu befreien. Dem steht nicht entgegen, dass das Andenken an den geliebten Partner auch ohne dessen Erwähnung ständig virulent zu sein scheint. Die Schilderung des Lebens und des Todes ihrer und Lou Reeds über alles geliebten Rat-Terrierhündin Lolabelle hat auch eine Stellvertreterfunktion für die Erzählung über die Liebe, den Verlust, den Tod, die Herausforderungen des gesellschaftlichen Lebens.

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Der Filmanfang konfrontiert mit expressiv von Anderson gemalten Schwarzweissbildern, die surreal einen Traum schreiben, in dem sie einen Hund gebiert, der vorher in ihren Leib eingenäht worden ist. Das kann verstörend wirken, wenn wir abrupt aus dieser Animationsstory gerissen werden und reale Bilder mit Andersons süchtig machender Erzähl­stimme von Erinnerungen, Freunden, politischen Ereignissen, philosophischen Weisheiten berichten, geleitet von einem Mantra, einer Überzeugung des Schriftstellers David Foster Wallace: «Every love story is a ghost story». Lolabelle gibt vor, was Leben ausmachen kann, wenn ein so geliebtes Tier zu einer Art Reflexionsmedium wird. Und selbst Ironie erhält eine sentimentale Note, wenn die zeichnerischen, bild­-haue­rischen und musikalischen Begabungen der Hündin wie in einem Dokumentarfilm vorgeführt werden, wenn Lolabelle in Folien kratzt, Pfotenabdrücke ausgehärtet werden und wenn sie nach ihrer Erblindung auf ein Keyboard hämmert: «Sie spürte, dass sie die Leute damit unterhielt. Sie bekam Applaus. Musik hat ihr das Leben gerettet.» Und wenn Anderson nach dem 11. September mit ihr aufs Land zieht, konnte sie beobachten, wie die Hündin die Gefahr durch die über ihr kreisenden Falken einschätzen lernte!

Wenn Lolabelle in das Totenreich eingegangen ist, gewinnen die Erinnerungen an Andersons Kindheit Oberhand. Zwei Jahre war sie in der Klinik, weil ein missglückter Salto im Schwimmbad auf dem Beton endete. Dort musste sie miterleben, wie Kinder an ihren Brandverletzungen litten und starben. Sie erinnert sich an ihr Verhältnis zur nie geliebten Mutter, die acht Kinder gebar, und an deren Tod, zum Beispiel dass diese sterbend an der Zimmer­decke Tiere sah, mit denen sie sprach. Doch eine Art der Hinwendung zur ungeliebten Person? Immerhin hat die Mutter sie die Liebe zu den Büchern gelehrt, und als Laurie fast schuldhaft ihre kleinen Zwillingsbrüder durch trügerisches Eis im See versinken sah und sie diese mit ungeheurer Kraftanstrengung rettete, meinte die Mutter nur: «Was für eine gute Schwimmerin du bist.» Eine Anerkennung, von der Anderson meint: «Es gibt ja Millionen Formen von Liebe.»

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Verschleierte Aufnahmen, farbige Töne, sprung-haftes 8-mm-Material – es kann wie ein Konglo­merat wirken, und doch scheint Andersons Inspirationskraft eines auf das andere zu beziehen. Und zur Kindheit fällt ihr der Freund Gordon Matta-­Clark ein, der Häuser zersägt und dessen Aktionen sie auf alten Aufnahmen mit den zwiespältigen Erlebnissen des Heranwachsenden kommentiert. Filmbilder, die rückwärtslaufen, lassen sie an Kierke­gaard denken, der vom Verständnis des Lebens im Nachhinein reflektierte. Und auch Wittgenstein ist des Nachdenkens wert, weil die Erschaffung der Welt durch die Sprache sein philosophisches Credo wurde.

Hunde wie Menschen müssen nach ihrem Tod nach buddhistischer Auffassung durch den Bardo, eine Vorstufe zur Erlösung oder Wiedergeburt, und durch diesen Abschnitt sollte man die Toten ungehindert gehen lassen, damit sie beim Übergang nicht gestört werden: «Den Sinn des Todes habe ich jetzt gefunden. Es ist das Loslassen der Liebe.» Laurie Andersons Erzählkraft bringt durch ihre vielen Bilder das Leben nahe – wenn man diesen Film mag und ihn liebt!

Horse rider

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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