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Soy Nero

Soy Nero von Rafi Pitts ist ein Film, der ebenso aus dem Schmerz wie aus dem Vergnügen kommt. Geboren wurde Nero in Los Angeles als Sohn mexi­kanischer Einwanderer. Als er nach Mexiko abgeschoben wird, versucht zurückzukehren und als sogenannter Green Card Soldier der Armee beizutreten und sich auf diese Art seine Staatsbürgerschaft zu verdienen.

Text: Philipp Stadelmaier / 15. Juni 2016

Geboren wurde Nero in Los Angeles als Sohn mexi­kanischer Einwanderer. Später wurde er abgeschoben, zurück nach Mexiko. Zu Anfang versucht er zurückzukommen – und wird erneut zurückgeführt. Er versucht es ein weiteres Mal, mit dem Ziel, als sogenannter Green Card Soldier der Armee beizutreten und sich auf diese Art seine Staatsbürgerschaft zu verdienen. Aber schon der Fahrer, der Nero hinter der Grenze mitnimmt, warnt ihn, dass in diesem Land alles ein «set up» sei. So gelangt Nero bald in eine luxuriöse Villa in Beverly Hills, in der sein Bruder residiert, der ihm erzählt, er habe es zu Erfolg gebracht. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass er nur ein Hausangestellter ist. Cut: Nero ist Soldat in Afghanistan, an einem Checkpoint in der Wüste. Im Nichts. Das Einzige, was ihm hier noch passieren kann, ist zu sterben, um Bürger eines Landes zu werden, das es so wie in seinem Traum gar nicht gibt.

Soy Nero von Rafi Pitts ist ein Film, der ebenso aus dem Schmerz wie aus dem Vergnügen kommt. Der Schmerz rührt für den jungen Immigranten aus der Unmöglichkeit, zu den USA zu gehören: Er, der hier geboren wurde, gehört nur noch zu ihrer Abwesenheit. Das Vergnügen besteht darin, dass der Filme­macher einen Raum entwirft, der nur seiner Figur und seinem Film gehört und der aus der Verwischung ­aller Grenzen einen utopischen Charakter erhält. Nicht im Sinn einer naiven Wohlfühlutopie, sondern einer schieren Nichtörtlichkeit.

Die Grenzgegend zwischen Mexiko und den USA, die unwirklichen Fassaden eines entvölkerten Beverly Hills, eine Steinwüste um einen amerikanischen Checkpoint in Afghanistan: All das sind leere Räume, die in ihrer Unzugänglichkeit wehtun, während sich gleichsam der Schmerz in dieser Leere auflöst. Bleibt nur die Enthüllung ihrer Oberfläche, der plastischen Schönheit, und der Jubel über den Verlust jeglicher Bedeutung, den man noch an das Konzept der «Grenze» oder in Zeiten globaler Migration der «Nation» binden könnte. Hier wird über einen Grenzzaun hinweg am Strand zwischen Mexiko und Kalifornien fröhlich Beachvolleyball gespielt, und Neros zweite Grenzüberquerung von Mexiko in die USA findet an Silvester statt: Während der junge Mann durch die weite Betonschlucht zwischen zwei Befestigungsanlagen rennt, blüht am Nachthimmel über ihm ein buntes Feuerwerk auf. Auch der Sprung zwischen Beverly Hills und Afghanistan ist ein ästhe­tischer, ein filmischer Sprung: ein Sprung in der Montage. Pitts feiert die ästhetische Auflösung von Grenzen, die dennoch weiterwirken. Als würde er sagen: Das alles gibt es längst nicht mehr, wir haben es nur noch nicht ganz geschafft, dem ein neues, positives Konzept entgegenzusetzen. Was den Schmerz wiederkehren lässt.

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Ebenso wie in Pitts’ The Hunter (2010) sind es die gewaltvollen Erfahrungen einer einzigen ­Figur, die den Film durchquert und ihn trägt. Nero ist so ausdrucksvoll und wortkarg wie der Nachtwächter in The Hunter, der in Teheran zwei Polizisten erschiesst und dann flieht. Pitts musste ihn selbst spielen, da er den Film – wegen der iranischen Zensur – anders nicht hätte machen können. Aus den Schmerzen und den Einschränkungen der Wirklichkeit wurde das Dokument einer Freude am Filmemachen, in dem der Regisseur selbst vor die Kamera tritt. Wenn der in Paris lebende Pitts nach 2010 nicht mehr in den Iran zurückgekehrt und damit quasi selbst exiliert ist – er hatte 2010 in einem offenen Brief an die iranische Regierung gegen die Verurteilung seines Kollegen ­Jafar Panahi protestiert –, dann ist nun auch sein ­neuer Film ein solches Dokument, das Einsamkeit, Ortlosigkeit und Nichtzugehörigkeit im schweigsamen Stolz seiner Hauptfigur zum künstlerischen Manifest bündelt, zur Freude, unter schwierigen Umständen einen Film zu machen.

Pitts konzentriert seinen Film auf Nero, um den die Einstellung langsam von aussen zum Tableau angereichert wird. Da zeigt er ihn ­allein, wie er in Beverly Hills einen Hügel im Villenviertel hinaufläuft, um dann wie zufällig ein Polizeiauto in der Unschärfe des Hintergrunds anzudeuten, das sich langsam herauskristallisiert. Auf ähnliche Weise wird später in der Villa die Freundin seines Bruders aus dem Hintergrund langsam durch das bläuliche Schimmern des Pools auf ihn zukommen. Nero, das ist der Nukleus des Bildes, der alles ansaugt – und in dem sich alles verdunkelt.

Wenn er als Soldat in Afghanistan steht, bringt er ein Opfer für eine Gemeinschaft, wie ein klassischer amerikanischer Held bei John Ford. Nero aber bringt ein Opfer, um einer Gemeinschaft anzugehören, die es längst nicht mehr gibt. Der Film erinnert auch an Michael Ciminos Deer Hunter (1978), wo russischstämmige Stahlarbeiter nach Vietnam ziehen: Auf ein abstraktes Bewusstsein von Gemeinschaft folgt eine konkrete Erfahrung und schliesslich ein konkreteres Bewusstsein von dieser Gemeinschaft. Hier aber folgt dem abstrakten Bewusstsein einer Gemeinschaft (­Neros Traum von Amerika) nur eine Erfahrung, die die Gemeinschaft keineswegs konkretisiert. Nero kehrt nicht wie Ciminos Figuren nach Amerika zurück, das gänzlich unkonkret bleibt. Selbst ein Angriff auf den Checkpoint erzeugt keinerlei Solidarität unter den Soldaten, die sich bald zerstreuen.

Amerika: Das wäre auch jener Helikopter, dessen Geräusch hier immer wiederkehrt. Beim Versuch der Soldaten, nach dem Angriff ihr Camp wiederzufinden, taucht er dann endlich auf – aber überfliegt sie, ohne sie zu sehen. Der Helikopter ist wie ein Elefant, der von einer Ameise begraben werden muss, sagt jemand zu Anfang: der Riese Amerika. So hat der Held nicht mehr die Aufgabe, eine Gemeinschaft zu stiften (wie bei Ford und Cimino), sondern sie, die ihn nie wollte und zu der er nie gehören kann, zu begraben.

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Aber wie begräbt man einen Elefanten? Indem man rennt, allein, durch die Wüste, im Nichts gefangen und im Sprung einer Dialektik, die anders als bei Cimino auf keine Gemeinschaft hin mehr öffnet. Immer wieder und gerade am Ende rennt Nero, während die Kamera ihm so folgt, dass er sich nicht vom Fleck zu bewegen scheint. Ein Bild ohne Hoffnung auf Anschluss, das sich auf seiner eigenen Route befindet, das sich nur noch selbst und in sich selbst bewegt.

Durch diese Sprints erinnert der Film vor allem an Richard C. Sarafians Vanishing Point oder Monte Hellmans Two Lane Blacktop (1971), die schon The Hunter inspiriert hatten: Autorennfilme, in denen das Alte endet und das Neue noch nicht begonnen hat; in denen die frenetische Kopplung zwischen gestern und heute und aller Geschwindigkeiten auf das Anhalten des Bildes oder das Verbrennen des Zelluloids traf und zur Utopie wurde. Diese Kopplung wäre hier die Solidarität zwischen Schwarzen, Muslimen, Latinos, also allen Minderheiten, die in Neros einsamem, gleichsam bewegungslosem Rennen zur Utopie wird: keine konkrete Utopie, aber eine Utopie des Kinos – eine Utopie der Bewegung. Ein Schmerz – und eine Freude.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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