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Europe, She Loves

Jan Gassmann zeichnet in seinem Semidokumentarfilm ein authentisches, aber düsteres Bild einer Generation jungen EuropäerInnen, die keine Zukunft sieht.

Text: Tereza Fischer / 28. Sep. 2016

Nico und Penny rauchen einen Joint auf dem Balkon, blicken über die Dächer von Thessaloniki und schauen einer alten Frau beim Wäscheaufhängen zu. «In zwei Monaten, wirst du da anderswo sein?» In der Hoffnung auf Arbeit will Penny nach Italien und setzt damit die Liebe zu Nico aufs Spiel. Im Laufe des Films wird sie sich immer mehr von ihm distanzieren. Die Liebe in Zeiten der Krise.

Gleich darauf fährt die Kamera an einer Versammlung von EU-Parlamentariern vorbei, die Einigkeit demonstrieren, das wohlhabende Europa feiern. Wenn die Kamera ihre Fahrt fortsetzt, einen Quai entlangfährt, an dem Pärchen einem Feuerwerk zuschauen, sind Politik und Liebe eng miteinander verknüpft. Da braucht Jan Gassmann die einzelnen Krisen Europas, die wir ohnehin kennen, nicht mehr explizit zu thematisieren, ihm genügen ein Paar Fetzen von Radionachrichten und mythisch überhöhte Stimmungsbilder in Slow Motion, um eine düstere Stimmung als Tapete für die Beziehungsgeschichten aufzuziehen. Hier die gesunkene Costa Concordia, da Brachland oder schwarze Wolken und Vögel am Himmel. Die unheilbringende Wolke, die im Kollektiv-Katastrophenfilms [art:heimatland:Heimatland] über der Schweiz aufzog und deren politische Abschottung mit der Urgewalt der Natur strafte, zieht jetzt auch über Europa auf.

In vier mal vier Wänden zeigt Gassmann die junge Generation in Europa. Er porträtiert und inszeniert in seinem Semidokumentarfilm vier Paare, erzählt vier Liebesgeschichten von den Rändern Europas: Thessaloniki, Sevilla, Dublin und Tallinn. Er selbst kommt aus dem neutralen Zentrum, aus der Schweiz. Dennoch ist sein Blick nicht der eines Aussenseiters, vielmehr eines unter gleichen.

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Während Penny in Griechenland ihrer Katze fast mehr Zuneigung zeigt als dem etwas älteren Pizzakurier Nico, streiten sich Karo und Juan in Sevilla wegen seiner Affäre und versöhnen sich beim Sex, in Dublin versucht Shiobhan mehr schlecht als recht Terry von harten Drogen fernzuhalten, und in Tallinn muss Veronika als Tänzerin in einem Club Geld für die junge Patchworkfamilie verdienen. Nicht nur die Geschichten sind entpolitisiert, auch die Menschen sind es, nur der Rahmen, in den sie der Film setzt, ist politisch. Die Konflikte reduzieren sich aufs Private, sogar als Nico und Penny in Thessaloniki während eines Protestmarsches auf die Strasse gehen, steht ihre Beziehung im Vordergrund.

Es sind alltägliche Sorgen und kleine Dramen, leise erzählt. Die Sprünge zwischen den Orten lässt die Montage verschwinden, sodass die Welten miteinander verschmelzen, als sei Europa tatsächlich ein grosses Wohnzimmer. Wären nicht die verschiedenen Sprachen, in denen die Paare ihre Wünsche und Frustrationen teilen, könnte man sie kaum auseinanderhalten. Zu ähnlich sind die bescheidenen Verhältnisse, in denen die jungen Menschen leben, studieren oder sich mit einfachen Jobs durchschlagen.

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Die Paare werden jeweils über die Frauen eingeführt. Sie wirken etwas entschlossener und pragmatischer als ihre Männer. Aber auch ihnen gelingt nicht alles, so setzt Karo den Masterstudiengang in den Sand, weil sie auf der Website die Instruktionen nicht richtig gelesen hat.

Überall wird gequalmt, werden Drogen konsumiert. Und allen schauen wir beim Sex zu. Das mutet programmatisch an, und das Interesse in diesen Momenten verschiebt sich von den Liebenden auf das Verhältnis zwischen Protagonisten und Regisseur, von der innerfilmischen Welt zu den Produktionsbedingungen. Vielleicht, weil einem dies bei realen Personen zu nah geht und stärker die Bewunderung für den Filmemacher in den Vordergrund rückt, der offenbar volles Vertrauen seiner Protagonisten gewinnen konnte. Ramon Gigers Kamera, die ihre kleine Welt mit unaufdringlicher Eleganz festhält, scheinen sie nicht wahrzunehmen.

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Dass dies alles blutleer wirkt, liegt am Lebensgefühl dieser Generation, die keine Zukunft sieht. Ratlosigkeit macht sich breit; Alternativen und Perspektiven gibt es kaum. Man hält sich über Wasser, grosse Pläne hat niemand. Mit einer Stunde «busking» haben Terry und Shiobhan in den Strassen Dublins 2.40 € verdient. «That’s not bad, isn’t it?» Zumindest ist da die Liebe, die ihnen Halt gibt, sie aneinander klammern lässt.

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