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Kongo 3

Das Kongo Tribunal

Die nicht geahndeten Kriegsverbrechen im Kongo kommen vor ein fiktives Gericht: der Versuch, ein Grauen anzuerkennen, von dem wir nichts wissen möchten.

Text: Philipp Stadelmaier / 20. Nov. 2017

Das Kongo Tribunal ist die Dokumentation zweier gleichnamiger Theaterperformances, die Milo Rau im Mai und Juni 2015 zuerst in Bukavu, einer Stadt im Osten der Demokratischen Republik Kongo, und in Berlin abgehalten hat. Nachdem sich der Schweizer Theater- und Filmemacher mit seinem Projekt «Hate Radio» mit dem Völkermord in Ruanda auseinandergesetzt hat, wirft er nun einen Blick ins Nachbarland und untersucht mit dem Ostkongo jene Region, die in der Folge des Genozids seit 1996 Dreh- und Angelpunkt eines andauernden Konflikts ist. Sechs bis sieben Millionen Menschen haben mittlerweile ihr Leben verloren. Raus Performances untersuchen den Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverbrechen und globalen wirtschaftlichen Interessen.
Diese Performances bestehen in der Tagung eines «Tribunals», das ausschliesslich aus realen Akteuren besteht. Vorsitz führt der belgische Jurist Jean-Louis Gilissen, der Chefankläger, Sylvestre Bisimwa, ist ein Anwalt aus dem Kongo. Kongolesisch-international ist auch die Jury: ein Juraprofessor, ein Anwalt, Menschenrechtsaktivisten, eine belgische Journalistin. Jean Ziegler, Schweizer Globalisierungskritiker und Menschenrechtsberater der UN, sollte auch teilnehmen, aber die UN hatte ihm die Teilnahme untersagt. In mehreren Sitzungen werden nun Zeugen zu mehreren Fällen angehört. Es geht um die Situation der Bevölkerung in Gebieten, in denen Gold und Kassiterit abgebaut werden, sowie um ein Massaker an Frauen und Kindern in einem Dorf. Die Zeugen sind ­enteignete Bergbauern, Angehörige von Rebellengruppen, Politiker, die Marketingchefin einer Minengesellschaft. In Berlin treten dann westliche Wissenschaftler und NGO-Mitarbeiter in den Zeugenstand, um die internationalen Zusammenhänge zu analysieren.

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Auf diese Weise entwirft dieses «Tribunal» ein Tableau mit gewaltigen Ausmassen und unscharfen Rändern. Der Kongo, vor allem der Osten des Landes, ist ein Gebiet mit einem unerhörten Reichtum an Rohstoffen. Minenunternehmen wie Banro oder die Mining Processing Congo sichern sich Schürfkonzessionen, infolgedessen werden Kleinbergbauern und andere Gemeinschaften enteignet, vertrieben oder mit Versprechungen (wie etwa dem Aufbau von Infrastruktur) abgespeist, die nie erfüllt werden. Im Gegenteil: Die Landschaft wird zerstört und vergiftet, die Leute von den Konzernen als Arbeitskräfte ausgebeutet oder arbeitslos. Die Verarmung schürt alte oder neue Stammeskonflikte (mit komplexer Genealogie aufgrund der Kongokriege) sowie die Konkurrenz zwischen verschiedenen Milizen; es kommt immer wieder zu Vergewaltigungen und Massakern. Der Staat, so er sich nicht sogar selbst an den Massakern beteiligt, schaut zu, die stationierten UN-Truppen greifen nicht ein, und die Firmen profitieren vom Chaos und der mangelnden staatlichen Autorität. Dass der Kongo auf diese Art ausgeschlachtet wird und die Bevölkerung nichts an den eigenen Reichtümern verdient, daran haben aber auch Akteure wie die USA, die EU, China und auch die Schweiz ein Interesse, wollen sie doch die wertvollen Bodenschätze, unabdingbar vor allem für die Elektronik­industrie, zum tiefstmöglichen Preis kaufen. Dass der Handel mit solchen sogenannten Konfliktmineralien von den Vereinigten Staaten und der EU mittlerweile eingeschränkt wurde, bedeutet nicht, dass auf dem Schwarzmarkt in den Nachbarländern des Kongo nicht weiter damit gehandelt würde.
Der Film besteht hauptsächlich aus den aufgezeichneten Performances selbst. Dazu kommen eine Art Making-of der Veranstaltung in Bukavu sowie Aufnahmen, die Rau im Ostkongo gemacht hat: Ortsbesuche und Interviews mit Mitgliedern von NGOs, mit Geistlichen, Feldarbeitern, Rebellen, Politikern. Insgesamt entsteht auf diese Weise ein überreicher Fundus an Material. Der Film will informieren, und er ist dabei dermassen dicht, dass man ihn sich mehrfach anschauen muss, um alle enthaltenen Informationen herauszuziehen; man könnte sogar sagen, dass sich seine Qualität erst dadurch offenbart, in dem man ihn Stück für Stück nacherzählt.
Gleichzeitig aber ist der Film nur ein Bestandteil eines transmedialen Projekts: Neben den Performances von 2015 erscheint im Herbst parallel zum Film noch ein Buch. Der Film erhebt dabei mit seinen gerade mal hundert Minuten Laufzeit keinerlei Anspruch, den künstlerischen Abschluss von Raus Recherchen zu sein, die man ja, gemessen an der Anzahl der Opfer und den globalen Dimensionen des Konflikts, auch durchaus in einem epischeren Rahmen hätte präsentieren können. Ebenso wenig soll der Film die Gesamtdauer der Performances dokumentieren, aus denen er dann auch nur Ausschnitte verwendet. Überhaupt hat man den Eindruck, nur einen groben Überblick über Zusammenhänge gewonnen zu haben, hinter deren Grausamkeit und Komplexität Rau selbst, als Arrangeur dieses Tribunals, zurücksteht; der Regisseur macht sich niemals klüger als sein Material.

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Es ist diese Komplexität, die es erlaubt, sich der Grausamkeit in ihrer Abgründigkeit überhaupt erst anzunähern. Man kann ihr niemals direkt ins Gesicht schauen, denn sie hat zu viele Gesichter, auch viele, die man aus Gründen der Anonymität nicht zeigen darf: wie der Angehörige der Rebellen, der verhüllt auf die Bühne kommt; wie die Frau, deren Kind bei der Geburt während eines Massakers erschossen wurde. Auch gibt es Grausamkeit, die gar kein eindeutiges Gesicht zu haben scheint, weil sie nicht individuell ausgeübt wird, sondern systematisch und abstrakt: durch Wirtschaftspraktiken der EU und der Schweiz, die einen Löwenanteil des Rohstoffhandels abwickelt, mittels Rechtsfreiheit transnationaler Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen und in Gestalt des schieren Elends eines der reichsten Länder der Erde von der Grösse Westeuropas.
Man hätte mit diesem Mangel arbeiten können, wie Claude Lanzmann, der in seinem Zeugenfilm Shoah das Grauen des Holocaust als grundsätzlich undarstellbar bestimmte; man hätte von Zeugen Vorgänge re-enacten lassen, wie Rithy Pan bei seiner Aufarbeitung des Völkermordes durch die Roten Khmer (S 21) oder Joshua Oppenheimer bei seiner Auseinandersetzung mit der Ermordung von «Kommunisten» in den sechziger Jahren in Indonesien (The Act of Killing). Rau jedoch geht es nicht um eine Ästhetik der Erinnerung, um ein Tableau mit oder ohne Lücken – sondern um eine Poetik der Intervention. Anders als Panh oder Oppenheimer offenbart das Theater bei ihm nicht die Umwege und Verzerrungen der Rekonstruktion einer vergangenen Wirklichkeit, sondern es verhandelt eine globale und gegenwärtige Wirklichkeit, deren Lücken nicht der Erinnerung, sondern der Komplexität globaler Strukturen geschuldet sind; Strukturen, über die ein Urteil gesprochen und in die eingegriffen werden muss, trotz aller Komplexität, trotz mangelnder Evidenz, und im Gegensatz zur der Tatenlosigkeit der Gerichte, die bislang noch niemanden verurteilt haben.

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Die enorme Stärke von Raus Filmperformance liegt darin, dass das Kongo-Tribunal fiktiv ist und somit unabhängig von jeder realen Rechtsprechung steht. Auf diese Weise demonstriert Rau, wie im 21. Jahrhundert Kino, Theater und Kunst politisch werden können: nicht mehr als Praxis des Widerstandes, des Protestes und der ästhetischen Reflexion – sondern in der Herstellung neuer Institutionen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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