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Noces

Text: Tereza Fischer / 14. Dez. 2017

Wenn eine junge Pakistanerin schwanger wird und die religiösen Eltern ob einer Abtreibung bloss mit den Schultern zucken, überrascht dies uns westliche Zuschauer_innen doch einigermassen – auch wenn die Familie in Belgien lebt. Die 18-jährige Zahira macht sich deshalb vorerst keine Sorgen. Doch schon bald stellen sich ihre Eltern als sehr konservativ heraus. Sie können sich für Zahira nur eine Zukunft vorstellen: Sie soll möglichst bald einen jungen Mann aus Pakistan heiraten und fortan im Heimatland leben. Die «Bewerbungsgespräche» mit potenziellen Gatten finden über Skype statt, während die Eltern, aber auch die grosse Schwester die Vorzüge einer Zwangsheirat anpreisen. Zahira aber, die noch aufs Gymnasium geht, glaubt an eine Liebesheirat.

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Die Geschichte, die Noces von Stephan Streker erzählt, ist gewiss nicht neu, der Film findet dennoch über weite Strecken einen intimen und berührenden Ton, der vor allem von den starken Schauspieler_innenleistungen getragen wird. Auch wenn sich der Film auf die Protagonistin konzentriert und die Leinwand mit ihrem schönen Gesicht füllt, versucht er auch die Sorgen und Zwänge der Familie nachvollziehbar zu machen. So erhält auch Zahiras Bruder Amir viel Leinwandzeit und Grossaufnahmen seines Gesichts, dank denen wir uns empathisch in seine Lage versetzen sollen. Am Anfang sorgt er rührend um seine Schwester. In Schuss-/Gegenschussaufnahmen spiegeln die beiden Gesichter Liebe und Respekt füreinander, und die Szenen verdichten sich zu Momenten, die weit intimer sind als jene, die Zahira später mit ihrem neuen Freund Pierre erleben wird. Doch Amir, das wird im Verlaufe des Films immer deutlicher, hängt an den Tradition seines Landes und des Islams, und er hat ein Ehrgefühl verinnerlicht, das in der streng patriarchalischen pakistanischen Gemeinschaft verwurzelt ist.

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Dass Zahira viel stärker zwischen den Kulturen oszilliert als er, zeigt sich in ihrem Umgang mit dem Kopftuch: mal trägt sie es pflichtbewusst, mal zeigt sie ihr Haar offen. Ständig wechselt sie zwischen ihrem westlichen Leben als Schülerin, die mit Freunden in die Disco geht, und ihrer Rolle als folgsame Tochter einer pakistanischen Familie. Als sich die Heiratsschlinge immer enger um sie zusammenzieht, versucht sie zu protestieren, gar auszubrechen. Aber in all den Szenen, in denen sie wegrennt, landet sich am Ende doch wieder zu Hause. Jeder Weg hat immer dasselbe Ziel; eine Flucht scheint von Anfang an unmöglich.

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Die Anpassung der Eltern an ihr belgisches Leben stellt sich als oberflächlich heraus. Und Zahira, die bereits (wiederum per Skype) mit dem (zwar sehr netten und schüchternen) Adnan in Pakistan verheiratet ist, bleibt damit ein Leben in der westlichen Gesellschaft verstellt. Der Druck wächst, denn für die Familie geht es ums soziales Überleben. Da der Vater zudem an einem schwachen Herzen leidet, kämpft dieser auch tatsächlich um sein Leben. Das Einhalten der gesellschaftlichen Normen wird als existenziell dargestellt. Die anfängliche Offenheit gegenüber der Abtreibung entpuppt sich als Doppelmoral, denn sie ist nur erlaubt, weil sich Jungfräulichkeit mittels eines chirurgischen Eingriffs wiederherstellen lässt. Diese Korrektur ist wohl so häufig, dass dies nicht der Rede wert ist. Zahira zumindest ist überrascht, als ihr ihre grosse Schwester mit grösster Selbstverständlichkeit erzählt, sie habe den Eingriff ebenfalls vornehmen lassen.

Nicht nur in diesem Moment fühlt sich Zahira von ihrer Familie verraten. Es ist die Summe der scheinbar vernachlässigbaren Halbwahrheiten, die ihr vorgesetzt werden, aber auch der ganz grosse Verrat am Ende des Films, die dazu führen, dass der Konflikt zwischen den Kulturen, zwischen Zahiras Eltern und ihr nicht wirklich ausgewogen vermittelt wird. Noces, der auf wahren Begebenheiten beruht, stellt sich auf die Seite der Tochter, deren Wunsch nach Autonomie nur zu gut zu den Werten von uns westlichen Zuschauer_innen passt, zu unserer Ideologie des Strebens nach Individualität und Freiheit. Verrat an der Tochter wird damit gleichgesetzt mit dem Verrat an den Werten der westlichen Gesellschaft, in der die Familie lebt. Damit bleibt Streker leider zu undifferenziert und beim Altbekannten, bei einem stereotypen, befremdeten westlichen Blick auf eine andere Kultur.

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