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Elle

Schwer zu sagen, ob Isabelle Hupperts Stöhnen zu Beginn des Films Lust oder Schmerz ausdrückt. Schwer zu sagen, ob Elle nur Thriller ist oder nicht doch auch eine schwarze Komödie.

Text: Philipp Stadelmaier / 01. Feb. 2017

Elle, der neue Film von Paul Verhoeven, basierend auf Philippe Djians Roman «Oh …», wird mit einer denkwürdigen Szene eröffnet. Michèle liegt auf dem Boden ihres Wohnzimmers, auf ihr ein schwarz gekleideter Mann mit Strumpfmaske, der sie vergewaltigt. Das alles sehen wir aus der Perspektive einer Katze, die unbeeindruckt zuschaut. In den Augen des Tiers wirkt die Szene auf seltsame Art neutral. Nachdem der Täter gegangen ist, steht Michèle dann auch einfach auf, räumt die Scherben weg. Sie sagt niemandem ein Wort. Es ist so, als sei nichts gewesen.

Diese Vergewaltigung war nicht ihre erste. Ihr Vater gelangte einst zu Berühmtheit, indem er eine Reihe von Kindern umbrachte. Damals ging auch ein Foto von ihr um die Welt, aufgenommen kurz nach dem Verbrechen, als sie ihm helfen musste, Dinge zu verbrennen: ein Kind, überzogen von Blut und Asche. Noch heute fauchen ihr manchmal Fremde «Mörderin» ins Gesicht. Michèle ist stigmatisiert durch dieses Bild, das sie ebenso zum Opfer wie zur Täterin macht. Als Chefin einer erfolgreichen Videospielfirma, die auf Monster, Sex und Splatter spezialisiert ist, lebt sie im wahrsten Sinn des Wortes vom Horror dieses Bildes. Sie lebt sogar gut davon. Sie ist wohlhabend.

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Michèle wird noch etliche Schläge mehr einstecken in diesem Film. Aber sie lässt sie auch zu oder teilt sie aus. Die initiale Vergewaltigung wird zweimal in Flashbacks wiederholt; beim zweiten Mal stellt Michèle sich vor, wie sie den Angreifer umbringt, indem sie ihm einen spitzen Gegenstand in den Kopf hämmert. Die Vergewaltigung selbst wiederholt sich ebenfalls, wobei Michèle ihm beim ersten Mal mit einer Schere die Hand zersticht und sich beim zweiten Mal sogar auf die Sache einlässt. Auch die Arbeit ist ein Ort mehr oder weniger manifester sexueller Gewalt: Die chauvinistischen Computernerds stellen sich vor, ihre Chefin wie eine Schabe zu zertreten, oder imaginieren sie als ein Opfer in einem ihrer Splattergames. Als sie einen ihrer Mitarbeiter dabei erwischt, zwingt sie ihn, die Hosen runterzulassen: «Wenn mir dein Schwanz gefällt, wirst du nicht gefeuert.» Wenn es um Männer geht, kennt sie wenig Gnade: Sie demoliert ihrem hilfsbereiten Exmann das Auto und verrät den Mann ihrer besten Freundin und Mitgeschäftsführerin, mit dem sie eine Affäre hat.

So erscheint von Anfang an die Vergewaltigung in den Augen der Katze nicht als traumatischer Akt, sondern neutrales Ereignis in einem schon immer von Gewalt geprägten Leben. Michèle mag Opfer sein, wendet aber selbst Gewalt an, ohne je einen moralischen Vorsprung zu haben. Die (moralische) Debatte, ob das alles jetzt feministisch sei oder nicht, kann man sich schenken. Denn wir befinden uns im Kino von Paul Verhoeven.

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Verhoevens Welt kannte stets nur ein einziges Gesetz: das Gesetz des Sichtbaren. Am klarsten formuliert ist dieses Gesetz in Hollow Man (2000): Der unsichtbar gewordene Mann hatte die voyeuristische Gier, besser zu sehen, ja alles zu sehen, was man sonst nicht konnte (Frauen in intimen Momenten zu beobachten), während an seinem eignen Körper Dinge transparent wurden, die man sonst nicht sehen konnte (alles unter der Haut: Muskeln, Blutbahnen et cetera). Es gibt keinen wirklich blinden Fleck in Verhoevens Kino, keine Tiefe, kein Bild hinter dem Bild. Darin unterscheidet er sich von einem Regisseur, dem er dennoch sehr ähnelt: Brian de Palma. Beide haben in der Nachfolge des ­Ur­­voyeurs Hitchcock einen ähnlichen Fetisch des ­«Bildes», das sie bis aufs Gerippe auspressen, während Verhoeven anders als De Palma damit kein Versteckspiel um eine verborgene Wahrheit betreibt. (Die Ausnahme wäre Basic Instinct (1992), wobei selbst hier die Frage, ob die Schriftstellerin eine Mörderin ist, eher die Lust und die Angst des Detectives deutlich macht, mehr vom anderen, seine andere, tödliche Seite sehen zu wollen). Auch in Elle zählt nur das Visuelle. Michèle verlangt von ihren Mitarbeitern, die orgiastischen Zuckungen einer Frau in einem der Spiele doch besser sichtbar zu machen. Das Sichtbare determiniert die Figuren, haftet von Geburt an an ihnen wie ihre Haut – wie jene von Michèles Enkel, der pikanterweise die schwarze Hautfarbe des Freundes ihres Sohns und seiner Freundin hat; wie das Foto, das einst von der kleinen Michèle aufgenommen wurde und seitdem ihr Leben bestimmt.

Da nun alles Oberfläche ist, zeigt Verhoeven, dass sich alle Oberflächen ähneln – ebenso wie die mit ihnen verbundene Moral. So wird im genialen Starship Troopers (1997) der Kampf der Zivilisation gegen die «Bugs» zur Satire auf den Faschismus, die unkorrumpierbare Tänzerin in Showgirls (1995) muss ihre Konkurrentin doch irgendwann die Treppe runterstossen, und in Black Book (2006) verliebt sich eine jüdische Undercoveragentin in einen SS-Mann, während der niederländische Widerstand keinen Deut besser ist als die Nazis.

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Aber Verhoeven ist kein Relativist und Zyniker, sondern ein exzessiver Ironiker. Er denunziert nicht die Oberfläche (das ist etwas für Moralisten), sondern spielt mit ihr. Nur die Oberfläche zählt – aber diese wird selbst ironisiert und damit Exzess, physische Gewalt. Daher Verhoevens Interesse für Blut, Gedärm, Schmutz. Der Alienschleim in ­§Starship Troopers, die Fäkalien in Black Book, all das sind Zeichen einer exzessiven Künstlichkeit des Bildes, aber auch einer exzessiven Ironie: Die Besudelung des Bildes erinnert an einen Rest des Wirklichen, und die letzte Bastion des Wirklichen bleibt stets der Körper. Wenn die Tänzerin in Showgirls mit einem Lorbeerkranz gekürt wird und über der Widerstandskämpferin in Black Book ein Eimer Fäkalien ausgeleert wird, dann ist dies die Krönung eines Kinos, das nur die Oberfläche kennt, wie auch ein Exzess, durch den der Körper dieser entzogen wird und der moralischen Indifferenz Widerstand leistet.

Dieser Widerstand kannte bislang zwei Tendenzen: Die Körper der Männer in Robocop (1987), Total Recall (1990) und §Hollow Man widerstanden den Maschinen, an die sie angeschlossen wurden; die Heroinen in Showgirls und Black Book widerstanden der sozia­len Brutalität um sie herum. Elle geht neue Wege, indem er beides komponiert. Inspiriert von Michèles Kinderfoto kopiert einer ihrer Mitarbeiter ihren Kopf auf den digitalen Avatar, schafft einen synthetischen Körper. Verhoevens Mise en Scène spielt dann mit ihr wie mit einer digitalen Figur in einem Computerspiel. Ihr Widerstand gilt damit nicht mehr dem Spektakel einer militarisierten Gesellschaft, des Showbusiness oder einer Welt des «Undercover», sondern der Sphäre des Bildes selbst, das heute personalisiert ist, unendlich real und unendlich manipulierbar, das uns durch Avatare ersetzt und gleichzeitig an uns klebt wie das alte Foto an Michèle. Dieses Bild bestimmt den Look des Films, der alle Oberflächen und moralischen Dispositionen eint und das Milieu bildet, das Michèle gefangen hält und sie Widerstand leisten lässt: Diffus schimmernd zwischen Milchglasweiss und dem Dumpfgrau des Fells der Katze ist es ihr einziges Licht und ihr einziges Dunkel.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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