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Neruda

Pablo Larraín hat eine individuelle Sichtweise eines Lebensabschnitts Nerudas zu zeichnen versucht, die nicht biografisch erscheinen will. Die Dramaturgie und Ästhetik seines Films macht von vornherein klar, dass er nicht abgehoben distanziert einen Literatur-Nobelpreisträger in die Klammer einer Lebensbeschreibung pressen möchte.

Text: Erwin Schaar / 21. Feb. 2017

Leopold von Ranke hat es als Aufgabe der Geschichtsschreibung formuliert, dass sie herausfinden soll, «wie es eigentlich gewesen ist». Ein Unterfangen, das selbst bei Ereignissen jüngsten Datums auch von akademischen Historikern kaum geleistet werden kann bei ihrer nicht wegzudiskutierenden individuellen Interessenlage und weltanschaulichen Bindung. So mögen künstlerisch orientierte Phantasien bei der literarischen oder visuellen Gestaltung von historischen Ereignissen oder Porträtierung politisch agierender Menschen gerade die Essenz ins Licht rücken, die kaum beweisbar ist, aber Phantasien beschäftigt.

Der 1976 in Santiago geborene chilenische Regisseur Pablo Larraín hat eine solche individuelle Sichtweise eines Lebensabschnitts Nerudas zu zeichnen versucht, die nicht biografisch erscheinen will. Ja, die Dramaturgie und Ästhetik seines Films macht von vornherein klar, dass er nicht abgehoben distanziert einen Literatur-Nobelpreisträger in die Klammer einer Lebensbeschreibung pressen möchte. Schon die Sequenz zu Beginn will nicht den politischen Streit völlig gegensätzlicher Gegner heroisch stili­sieren. Der Streit bricht en passant zwischen dem Stalin-Anhänger und Senator Pablo Neruda und seinen rechten Widersachern in einem Pissoir aus, das auf den ersten Blick eher wie ein Vorraum eines Salons erscheint. Eine Auseinandersetzung in einem solchen Raum als Einführung kann nicht mehr in eine abgehobene geschichtliche Sichtweise münden. Der Filmtitel Neruda verliert sein biografisches Flair und appelliert an die Zuschauer, in der Folge keine Heldensaga zu erwarten. Denn wir würden ganz schön düpiert, wenn das Bildungsverlangen die Oberhand bekäme.

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Das Spiel kann beginnen, von dem Larraín meint (in einem Interview mit der «New York Times»): «Believe me, I read four biographies, I read his autobiography; it’s a beautiful book. I talked to people who met him, I read hundreds of essays on his life and I made a movie that’s called §Neruda. And I can tell you right now that I have no idea who he was because he’s ungrabbable, impossible to put in a box. So, once you understand that, it gives you a lot of freedom, and that’s why we say that this is a Nerudian movie because for us – in my country and in our language – Neruda was a man who created a cosmos that is so complex and deep.»

1945 wird Neruda Senator auf der Liste der kommunistischen Partei Chiles und stimmt für Präsidentschaftsanwärter González Videla, der sich aber nach seiner Wahl zum diktatorischen Herrscher entwickelt und von Neruda immer heftiger kritisiert wird. Videla erlässt ein Gesetz zur Verteidigung der Demokratie, das über 25 000 Menschen ihrer Rechte beraubt. Kurze Einstellungen zeigen, wie Oppositionelle in Konzen­trationslager gepfercht werden, und lassen einen Blick auf Pinochet als Lagerleiter werfen. Auch Neruda soll verhaftet werden. Aber der Film wird in vielen Einstellungen und Sequenzen, manchmal in Bildein­schüben, die wie Gedankenblitze oder Rückblenden wirken, die Flucht zum Kern des Geschehens machen. Und eine differenzierte Wechselrede wird die Handlung begleiten: Nerudas Dialog mit den Handelnden, die Stimme des Erzählers und die Einlassungen einer Figur, die wie eine literarische Erfindung Nerudas neu die Szene betritt und als zweiter Hauptakteur agiert: der Geheimdienst­inspektor Oscar Peluchonneau, abkommandiert zur Ergreifung des Dichters. Er sieht sich als illegitimen Sohn eines berühmten Polizeichefs und einer Prostituierten, wird aber auch «halb als Trottel, halb als Idiot» wahrgenommen. Er liebt Detektivgeschichten und hat als Nerudas Gegenspieler dessen Flucht zu begleiten. Seine meist aberwitzigen Aktionen treiben die Geschichte voran, bis Neruda nach Argentinien entkommen kann, um nach Paris ins Exil zu gehen, wo ihn sein Parteifreund Picasso der feinen intellektuellen Gesellschaft präsentieren wird.

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Larraín und sein Autor Guillermo Calderón gestalten diesen Peluchonneau wie eine literarische Figur, die Nerudas Eingebungen entsprungen scheint. Sie soll die Flucht des Dichters und seiner aristokratischen zweiten Frau Delia in ein bewundernswertes Licht rücken. Dieses Entkommen mithilfe seiner Freunde und Genossen und mit Unterstützung seiner vielen Verehrer, die ihm immer wieder grosszügigen Unterschlupf bieten, wirkt bisweilen wie eine Mischung von Moritat, Ballade und opernhaftem Geschehen. Wer dabei die Arien vermisst, wird mit den pathetischen, eigenwilligen Rezitationen von Nerudas Gedichten belohnt. Die Musik von Federico Jusid mit Anleihen bei Penderecki, Grieg oder Ives unterstreicht diese Anmutung.

Wenn die Farben manchmal zu einem schleierhaften lila Touch wechseln, ergibt das einen zusätzlichen künstlichen Charakter, um die Handlung nicht missverständlich als realistisch erscheinen zu lassen. Eine eindrückliche Präsenz, mimetisch und körperlich, zeichnet den Neruda-Darsteller Luis Gnecco aus, der neben dem politischen Engagement die Liebe zu Champagner, gutem Essen und Prostituierten eindrücklich zu präsentieren weiss. Gesellschaftliches Engagement ist kombiniert mit Witz und Pathos. «That’s also why we decide to focus on the poems that have rage and fury, that combine politics and ideology with poetry. To create this absurdity somehow, this nonrealistic space.» Eine einfache Anhängerin wird Neruda fragen, nachdem sie zu ihm, der mit Freunden reichlich tafelt, vorgedrungen ist: «Werden wir im Kommunismus so sein wie du oder wie ich?» «Wie ich», ist seine Antwort. Er versteht es, keinerlei Zweifel an seiner Moral aufkommen zu lassen und sich seinen wenig begüterten Parteifreunden als das Mass vorzustellen, an dem die Welt des Sozialismus gemessen wird.

Kein Widerspruch zu dem, was Neruda in seinen Memoiren («Ich bekenne, ich habe gelebt») über sich urteilt: «Wir Dichter haben das Recht, glücklich zu sein, denn wir sind unseren Völkern und dem Kampf um ihr Glück eng verbunden.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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