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Das Mädchen vom Änziloch

Alice Schmid ist ein besonderer Coming-of-Age-Film geglückt. Der poetische Dokumentarfilm lässt subtil die Welt der zwölfjährigen Laura, die in den Innerschweizer Bergen auf einem Bauernhof lebt, zwischen Traum und Wirklichkeit schweben.

Text: Tereza Fischer / 08. Feb. 2017

Da, wo im Entlebuch die Köhler von Romoos noch Holz in schwarzes Gold verwandeln, lebt die zwölfjährige Laura Larisa Röösli. Sie hilft tatkräftig mit, wenn die Familie Kohle herstellt, auch wenn es heisst, mitten in der Nacht aufzustehen und nach dem Feuer zu schauen. Doch als einzige Tochter der Familie ist sie in den Ferien oft allein. Sie kümmert sich dann um die vielen Tiere auf dem Bauernhof, Ponys, Kaninchen, Geflügel, Lamas, spielt auch mal mit den grossen Brüdern ein Computerspiel, vor allem aber schreibt sie Tagebuch. Sie schreibt sich wie jedes andere Mädchen ihre Sorgen, Ängste und Träume vom Leib, die sie mit niemandem teilen kann.

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In den Tagebucheinträgen kehrt immer wieder als kleine Obsession die Sage von der Jungfrau vom Änziloch wieder. Die tiefe Schlucht befindet sich nicht weit von Lauras Haus entfernt. Niemand aus der Gegend traut sich an den unheimlichen Ort, an dem die Verdammte immer noch leben soll. Sie soll sich gegen den Vater aufgelehnt, ihn gar erschlagen haben. Bei Vollmond kämme sie ihr langes weisses Haar.

Laura, die eines der Kinder ist, die Alice Schmid in [art:die-kinder-vom-napf:Die Kinder vom Napf] schon mit der Kamera begleitet hat, träumt vom Jungen mit blonden Haaren und blauen Augen, der sie aus der Einsamkeit erlösen soll. Dieser Prinz ist der vierzehnjährige Thom, ein Junge aus der Stadt, der eine Woche Landdienst auf dem Bauernhof verbringt. Mit Thom kann Laura ihre Phantasien über die Jungfrau vertiefen: Ist sie ein Geist oder lebt sie tatsächlich noch? Sie soll ein Kind bekommen haben. Wie soll das gehen?

Den erheiternden Kontrast zu Lauras Neugier bilden die «reporterhaft» kadrierten Einschübe, Ganzkörperaufnahmen, in denen die Männer vom Entlebuch in ihren Vermutungen über die Jungfrau und das Änziloch tief blicken lassen. Nie würden sie sich in die Schlucht, ins Ungewisse wagen. Es sei ja wohl was dran, an der Sage. Bestimmte Dinge will man hier nicht genauer wissen, nicht darüber reden.

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Laura aber ist fest entschlossen. Erst allein und dann mit Thom wagt sie sich immer näher an die Schlucht ran. Sie versucht erstmal, die Distanz mit einem Fernglas im Sicherheitsabstand zu überbrücken. Doch die Neugier ist stark. Auch sonst erkundet sie die Welt in einer sinnlichen und doch abgeklärten Art. Das Schlachten eines Kaninchen gehört zum Leben, auch wenn ihr beim Anblick der Innereien fast die Lust aufs Essen vergeht. Aber auch den Tod ihres geliebten Ponys Sternli nimmt sie als gegeben hin, was sich weniger in ihren Worten zeigt, als vielmehr in stillen, unkommentierten Bildern. In den Auslassungen schlägt sich das wortkarge Umfeld des Mädchens nieder.

Schmid lässt in Das Mädchen vom Änziloch immer wieder Traum und Wirklichkeit in einen Schwebezustand geraten. Obwohl alle Bilder dokumentarisch sind, scheint Aurelio Buchwalders Kamera direkt Traumbilder eingefangen zu haben, als entspringe das Diffuse, Konturenhafte und Dunkle Lauras Kopf. Besonders schön ist das Zusammenspiel von Bild und Ton, wenn Distanz und Nähe kollabieren: Die Kamera erfasst Laura in grosser Entfernung als Punkt in der Landschaft, auf der Tonspur ist jedoch deutlich ihr lautes Atmen zu hören. Die Berge verbinden sich so mit dem Inneren des Mädchens, sie werden eins. Laura scheint ein untrennbarer Teil ihrer Umgebung zu sein.

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Natürlich möchte Laura Thom gefallen. Sie trägt gerne T-Shirts mit Leopardenmuster oder Wildtieren-Aufdruck, hadert aber mit ihren paar Kilos zu viel. Gerne würde sie ihre «Dicke wegzaubern». Dass ihre Sexualität erwacht, zeigt sich auch schön, als sie Thom bei seiner Ankunft gleich in den Wohnwagen führt und ihm das Bett macht. Überhaupt schwingt die noch unentdeckte Sexualität stets unterschwellig mit. Am schönsten, als die beiden im Trutthahnstall den Hahn bewundern. Das weisse Tier mit dem rot-blauen Kopf ist der Herr im Haus und demonstrierst dies auch eindrücklich, indem er sich auf eine Henne wirft. In unmittelbarer Nähe der Kamera, die nichts eindeutig zeigt und doch diesen ungehemmten Trieb schon fast gewalttätig erscheinen lässt – während Laura und Thom im Hintergrund diesem peinlichen Treiben zuschauen.

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Doch Laura muss feststellen, dass Thom ein «feiges Huhn» ist. Sang- und klanglos verschwindet er nach einer Woche wieder. Kein Abschied, nur ein scheinbar beiläufiges Bild aus grosser Distanz, das ihn beim Weggehen zeigt. Auf Lauras SMS meldet er sich nie mehr. Welche Enttäuschung. Doch schöpft Laura gerade daraus den Mut, endlich ins Änziloch hinunterzusteigen. Was sie da erlebt, ist eine Art Initiation. Sie hat ihren ersten Liebeskummer überwunden und ahnt, dass Männer leider nicht erträumte Prinzen sind, sondern manchmal feige Hühner. Ein grosser Schritt ins Erwachsenenleben.

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