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Zaunkönig – Tagebuch einer Freundschaft

Mit nur 34 Jahren stirbt Martin Felix am exzessiven Drogenkonsum. Davor schreibt er fünfzehn Jahre lang intensiv Tagebuch. Die umfunktionierten Schulhefte werden für seinen Freund Ivo Zen zum Ausgangspunkt eines eigenen Tagebuchs: einer filmischen Reflexion über ihre Freundschaft.

Text: Tereza Fischer / 08. Feb. 2017

Hätte ich etwas tun können? Hätte ich den frühen Tod verhindern können? Eine Frage, die viele umtreibt, die Freunde viel zu früh verloren haben. So lotet Ivo Zen seine Beziehung zu seinem früh verstorbenen Freund Martin aus, vor allem im Dialog mit gemeinsamen Freunden: Wie war das damals? Er zeichnet die Stationen des mit der Normalität Ringenden nach. Martins Mutter ist die Erbin seiner Tagebücher, sie bestimmt, wer was lesen darf. 2013 hat sie Teile als Buch herausgegeben, damit ihr Sohn gelesen, «gesehen» wird. Und sie verweigert sich auch manchen Fragen, will zum Glück nicht wissen warum.

Sie und Martins Freunde lesen Auszüge aus den Tagebüchern. Es sind Fragmente einer verunglückten Suche nach Freiheit, Liebe und Freundschaft. Martin fehlt Halt. «Heb Di! Welch wunderbarer Ausdruck! Das Leben ist ein Juwel», schreibt er. Aber kann man sich selber Halt geben, fragt der Filmemacher. Ja, eigentlich schon, meint Martins Mutter.

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Martin ist ein intelligenter, sensibler, unsicherer junger Mann, der gleichzeitig ein überhebliches Gefühl, besser als die anderen zu sein, mit sich herumträgt. Bloss nicht wie der Durchschnitt sein. Er ist der kleine, schlaue Zaunkönig, der mit List höher fliegen will als der Adler. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, konkurriert aber mit der Unfähigkeit, die Füsse auf den festen Boden zu kriegen. Er freut sich, endlich ein Freak zu sein, als er aus Amsterdam erfolgreich Haschisch nach Hause schmuggelt. Die Freunde – auch sie Aussenseiter, die sich über andere amüsieren – machen mit, rauchen Haschisch, trinken Alkohol, flüchten aus der Enge der schulischen Anforderungen und des Bündner Tals. Die Welt der Erwachsenen in den frühen neunziger Jahren ist auf Norm, Funktionieren und Verantwortung begrenzt, sie lässt der jugendlichen Welt- und Weitsicht keinen Raum.

Während Martin sein Tagebuch schreibt, filmt Ivo Zen auf Super-8. Für beide ist es überlebenswichtig. Oft ist Martin der Protagonist von Ivos Filmen. Er torkelt benebelt durchs Bild, als sei er bereits in einer anderen Sphäre. Als er in einem frühen surrealistisch-existenzialistisch angelegten Kurzfilm nackt vom Sprungbrett in einen Pool springt und sich sichtlich unter Einfluss von Drogen am anderen Ende aus dem Wasser kämpft, wirken die profanen Anweisungen des Kameramanns – «usecho, usecho» –, als könnten sie ihn gar nicht erreichen. So weit weg scheint er sich von der Realität entfernt zu haben.

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Es ist das Oszillieren zwischen der authentischen Suche nach dem verlorenen Freund im Hier und Jetzt und dem Abtauchen in eine frühere, abgehobenere Welt der Jugendlichen, die eine ergreifende Intimität entstehen lässt. Die ungelenk vorgelesenen Tagebucheinträge tragen zur emotionalen Glaubwürdigkeit bei. Die Musik und die zu einer Traumarchitektur montierten Super-8-Aufnahmen verdichten sich zur Stimmung einer ganzen Generation. In manchen Einstellungen erinnert Martin an Kurt Cobain: ein fragiler junger Mann mit feinen Gesichtszügen, der an seinen eigenen Ansprüchen leidet. Ihm fehlt eine Vision.

Zusammen mit einem alten Freund wandert der Filmemacher «ins Niemandsland», zur Wasserscheide, wo das Wasser auf der einen Seite ins Mittelmeer fliesst, auf der anderen schliesslich die Nordsee erreicht. Es scheint ein treffendes Bild für Martins Abdriften in eine andere Welt. Während Martin immer mehr den Halt verliert, finden seine Freunde das Leben im Studium, im Filmemachen, in der Kunst oder Architektur.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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