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Calabria

Wie ein Road Movie mit Sarg freundlich vom Leben erzählt.

Text: Martin Walder / 27. Juni 2017

«Glaubst du, der da hinten spürt, dass er bald an­kommt?», fragt einer im dunklen Anzug, weissen Hemd und mit getüpfelter Krawatte den ebenso würdig gewandeten Kollegen am Steuer. Im Heckfenster der Limousine, hinter einem Sarg, flieht die Asphaltmarkierung ins Dunkel einer Tunneldecke oder sonst ins Nirgendwo. Nein, das glaube er nicht, sagt der andere. Beider Blicke sind meist nach vorne auf die Strasse gerichtet, gelegentlich suchen sie mit einem Lächeln das Gesicht nebenan. Das elegant konkav geschnittene Heckfenster hat etwas von einem Bühnenportal. Glaubst du an die Auferstehung?

Zwei Männer überführen die sterblichen Überreste eines Mannes von der Schweiz in sein kalabrisches Dorf zur letzten Ruhe; zwei Tage und zwei Nächte dauert die Reise. Was geht einem da durch den Kopf? ­Pierre-François Sauter (Face au juge) erzählt es in seinem traumhaft leichten, lakonischen Roadmovie Calabria, an dessen Ende man für sich denkt, unbedingt müsse der Mann im versiegelten Sarg die Salzluft des Meers und die wilde Minze am Weg zum Friedhof gerochen haben.

Jovan Nikolić und José Russo Baião arbeiten bei den Pompes Funèbres Générales von Lausanne. Ihr Passagier war als Fremdarbeiter, wie man damals sagte, in die Schweiz gekommen, wohl im Eisenbahnwaggon dritter Klasse. Unsere Erinnerungsbilder davon sind schwarzweiss, wie zum Beispiel in Alvaro Bizzarris Dokumentarfeature Il rovescio della medaglia (1974). Sie setzen (unter anderen) den Anfang des Films, bevor dieser in die farbig unterkühlten, labyrinthischen Innereien des Spitals taucht und schweigend das Handwerk einer Einsargung protokolliert. Ein Mann namens Francesco ist an Krebs gestorben.

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Jetzt also die Überführung aus der Schweiz nach einem Flecken namens Gasperina. Der Tote und seine zwei Begleiter, alle drei Fremde in unserem Land, wie immer ihr Fremdsein zu begreifen war oder ist: als Arbeitsalltag, als Schicksal, als Zufall von Lebensläufen, die sich kreuzen – und vielleicht in der Liebe verknüpfen. Idealerweise einer Liebe für immer, sagt Jovan, dann wäre die Seele dort angekommen, wo ihre eine Hälfte ganz hingehört, «forcément». Gute Roadmovies sind immer auch philosophische Filme über die Zeit.

Jovan ist serbischer Roma und stammt aus der Vojvodina, José ist Portugiese; von einer Kioskfrau an der Autobahntankstelle werden sie für Brüder gehalten. Jovan, der Musiker, versichert sich seit seiner Adoleszenz der Schönheit des Lebens in traurigen Liedern seiner Heimat, zu denen er sich auf der Gitarre virtuos begleitet: «Man lebt nicht tausend Jahre!» Oder er singt im Hotelzimmer in Follonica der kleinen Tochter zu Hause zärtlich ein Gutenachtlied ins Handy. Aber natürlich kann er auch «Strangers in the Night» vor sich hin klimpern, wenn der Regen aufs Autodach prasselt und das Geräusch des Scheibenwischers einen eigenen Takt gibt.

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José, ein Secondo, ist einsilbiger, verschwiegener; sowie jedoch bei Genua das Meer in Sicht kommt, taut er spürbar auf, pfeift, rezitiert gar ein paar Zeilen seines portugiesischen Nationaldichters Camoes. Und wenn er dann einmal, allein im Auto, David Oistrach mit dem Beethoven-Violinkonzert lauscht, verrät er uns beiläufig den Klang der eigenen Seele.

Als wäre solche Natürlichkeit das Resultat von lauter dokumentarischer Improvisation. Während der Fahrt sind wenige fixe Kamerapositionen auszumachen: nach vorne auf die Strasse, von vorne auf die Gesichter, nach hinten zum Sarg; daraus gefertigt die Montage der geglückten Momente zum Reisepoem. So einfach wäre das in Wahrheit kaum zu haben gewesen: «Une préparation précise permet plus de spontanéité», hat der Filmemacher erkannt. Etwa achtzig «Protagonisten» hat er gecastet, hat während mehrerer begleiteter Überführungen Orte und mögliche Situationen rekognosziert. Beim Drehen dann wurden Sequenzen wiederholt, wurden Themen, Situationen vom Regisseur angesteuert, angereizt. Er selber verbarg sich mit zwei Monitoren hinter Fahrer- und Beifahrersitz, steuerte Blende und Schärfe der beiden halbprofessionellen Kameras am Saugnapf auf der Windschutzscheibe. Hinter dem Leichenwagen fuhr das Begleitfahrzeug mit dem Chefkameramann. Hier hat also Regie stattgefunden, ohne dass man sich ihrer gewahr wird.

Was dergestalt vom Dokumentieren subtil in die Fiktion gleitet, ist gewollt, gewissermassen Kiarostami-Spiel. Aber mit welch schnörkelloser Delikatesse, welch besinnlicher Ruhe in vorzugsweise frontalen Einstellungen, die in ihrem zeitlichen Auslauf das bloss Anekdotische bannen. Und mit welch suggestiver Soundkomposition. Manchmal, wenn sie einander zum Beispiel ihre Muttersprache beibringen wollen, sind Jovan und José sehr komisch, ein wenig wie Wladimir und Estragon bei ihrem Zeitvertreib im Beckett-Land. Nur dass in diesem Film die Blätter noch grün sind und es viele Blätter und Licht gibt. Dem Sarg hinten im Pullman zum Trotz. Dass Calabria es beim Schweizer Filmpreis im März nicht einmal in die Nominationen geschafft hat, bleibt wahrlich das Geheimnis der Film­akademie.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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