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L’Opéra de Paris

Was sind wir Kinobesucher denn anderes als Voyeure? Im Blick hinter die Kulissen hat immer schon ein besonderes Vergnügen gelegen.

Text: Martin Walder / 06. Juni 2017

Jean-Stéphane Bron ist in die Oper gegangen, sozusagen zum ersten Mal: Er kennt sich da nicht aus. Weiss nicht, wie eine solche Institution funktioniert, kennt nichts bezüglich Ballett und generell nichts über Gesangskunst, die «art lyrique». Beste Voraussetzungen also für einen Dokumentarfilm, dessen Treibstoff die Neugier ist. Brons Produzent hatte den Riecher für einen schönen Filmstoff, als in Paris der langjährige Scala-Intendant Stéphane Lissner an Bastille und Garnier das Zepter übernahm, mit ihm der hoch gehandelte Philippe Jordan als Chefdirigent und Benjamin Millepied als Ballettmeister.

Der Vaudois Bron liess sich, nach [art:lexperience-blocher:L expérience Blocher], diesem, wie er sagt, «documentaire sombre, pessimiste», gern darauf ein – und im vollen Wissen, besetztes Terrain zu betreten. In unvermeidbare Nähe zum amerikanischen Altmeister Frederick Wiseman begibt sich, wer mit der Kamera in der Hand ins Innenleben einer Institution eindringt, gerade auch in Paris (Crazy Horse, 2011, La Danse, 2009). Brons Porträt besteht gut daneben.

Jede Institution ist ein Organismus, die Oper mit ihrem emotionalen Hochdruck vor und hinter dem Vorhang ohnehin und ein Riese wie die Pariser Oper ein besonders vitaler. Der lebhafte, vor jeder Aufführung wieder neu hochgejagte Puls dieses Organismus sollte die Form bestimmen: «que le film lui-même devienne ‹opéra›». Die Musik des Films hebt denn auch ständig über die diegetische Ebene der Szenenausschnitte hinaus ab in einen universellen musikalischen Echoraum, der viele andere, zum Beispiel auch Quartettmusik einschliesst und die dokumentarischen Filmsequenzen emotional grundiert.

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Nicht eine Aufführung sollte im Zentrum stehen. Im Gegenteil, der Film endet gleichsam, bevor der Vorhang aufgeht; das mag für Melomanen erst etwas frustrierend sein, ist aber stimmig. Auch heftet sich der Regisseur nicht geblendet den Topstars an die Fersen, den Bryn Terfels und Jonas Kaufmanns, die die Kamera von Blaise Harrison kaum mehr als streift. Ein junger Russe namens Micha Timoschenko ist es, der eben beim Vorsingen den Zuschlag bekommen hat und mit seinem phantastischen Bassbariton ebenso gierig wie staunend das Oberdeck des Schiffs «Opéra de Paris» ins Visier nimmt (immerhin vom grossen Terfel ermutigt). Zu seinem Auge wird auch jenes von Bron, und der Film hat so als Protagonisten neben dem Sänger als Cicerone den erst zögernden Direktor, die «petits violons» einer von einer Mäzenin geförderten Schar Jüngstgeiger, den Dirigenten und all die guten Geister der Administration, die (selbstbewussten) Choristen bis hin zu den Reinigungskräften.

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Teilweise war dem Filmer bekannt, wann und wo diese wichtige Auftritte hatten. Oft genug aber führte die Aktualität «Koregie»: Die Terrorattacke vom 13. November 2015, ein Streik und dann Millepieds Demission drohen den Riesen ins Schlingern geraten zu lassen. Oder just vor den Osterfeiertagen meldet sich der Sachs der «Meistersinger» als indisponiert ab. Doch am Theater ist Spielen oberstes Gebot – und eben vielleicht gar ein politischer Akt von Symbolkraft in jenem Moment, als die Republik unter dem Schock von Bataclan erzittert.

Dies alles spielt dem Film zu, auf seiner Sondierfahrt durch das Arteriengeflecht der Oper. Dass er mit seiner Kamera nicht bis in die Herzkammern vordringen würde, war Bron natürlich bewusst. Die Vorzimmerperspektive kennt er schliesslich bestens vom Mais im Bundeshuus und weiss, wie man daraus witzig Kapital schlagen kann. Und ebenso weiss er: «Le cinéma a besoin que quelque chose résiste.» Das schafft Distanz und auch ein wenig Kitzel, hätten wir doch wirklich gerne mehr erfahren, ob der gewaltige Charolais-Stier seine Rolle in «Moses und Aron» so dumpf und gottergeben absolviert hat, wie es auf der Bühne den Anschein macht. Sein Betreuer jedenfalls schaut dem Auftritt mehr als aufmerksam zu …

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Das anekdotisch flüssig montierte Kaleidoskop-Prinzip bereitet Vergnügen und lässt den Totaleinsatz aller beteiligten Kräfte zumindest erahnen – oder gar mitempfinden: Wenn die Kamera in gespannter Anteilnahme beobachtet, wie die Primaballerina nach einem Auftritt in der Kulisse eine gefühlte Ewigkeit nach Luft ringt oder wie die Betreuerin der Sängerin von Rigolettos geliebter Tochter Gilda mit Wasserflasche und Taschentücherbox demütig stumm auf den Fersen bleibt. Da erhaschen wir ihn dann momentweise: den magischen Blick ins offene Herz.

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