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Rester vertical

«Ich habe keine Angst, jemanden zu verschrecken […]. Es fasziniert mich, wie es mir zur selben Zeit Angst macht. Überhaupt ist dies ein Film, in dem ich auf Dinge blicke, die mir eigentlich Angst einflössen.» Alain Guiraudie

Text: Philipp Stadelmaier / 31. Juli 2017

Die Hauptfigur in Rester vertical ist Léo, ein Filmemacher. Seinem Produzenten verspricht er ein Skript, das er aber nicht schreiben und nicht schicken wird. Er wird seinen Film nicht drehen und nie wieder Filme machen. Was wird er stattdessen tun? Vater sein.

Wenn Léo das Filmemachen aus den Augen verliert, dann weil er sich verliert. Von Anfang an ist er unterwegs, ohne Ausgangspunkt und ohne Ziel. Er hat keinen festen Wohnsitz und irrt im Auto oder zu Fuss in der Gegend umher. Auf einer Landstrasse trifft er den jungen Yoan, der beim älteren Marcel lebt; später dann eine Frau und ihren Vater, die eine Schafsherde in den Bergen hüten. Mit der Frau wird er ein Baby kriegen, und sie wird ihn verlassen. Léo bleibt allein mit dem Kind und eingesponnen in ein Geflecht von Begehrlichkeiten unter Männern: dem Vater der Frau auf dem Schafshof, Yoan und Marcel.

Wie alle Filme von Alain Guiraudie erzählt auch Rester vertical von der Suche der Hauptfigur, angetrieben von einem unbestimmten Begehren. Léo will nicht mehr filmen. Aber was will er dann? Der Film folgt Léos Flucht vor dem Filmemachen und wird dabei selbst ein Film, der schierer Entwurf bleibt. Im Grunde besteht Rester vertical aus einer einzigen Fluchtlinie, die wie Léo unbeirrt nach vorne strebt, aber nie nur geradeaus, sondern Haken schlagend und die Richtung ändernd. Diese Linie zeichnet die Kamera schon zu Anfang in die Landschaft, wenn Léos Auto über eine Strasse gleitet – geradeaus, in Kurven und wieder geradeaus.

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Die Fluchtlinie ist weder gerade noch durch­gängig, sondern gepflastert mit Hindernissen, an denen man sich als Zuschauer (wie Léo) immer und immer wieder stösst. Die Landschaft, die Gesichter, Geschlechtsteile und Liebesszenen. All dies filmt Guiraudie frontal – wie Hindernisse, die plötzlich vor einem auftauchen, an denen man sich den Kopf anschlägt und an denen das Begehren hängen bleibt. Was frontal ist, wirkt hier nicht minimalistisch oder formalistisch. Es wirkt in allererster Linie hart und fest. Allein deshalb kann man hier, wo man schon mal einen erigierten Penis zu sehen kriegt (wie schon in Guiraudies letztem Film L’inconnu du lac, der in der Schwulencommunity an einem südfranzösischen See spielt), von einer Poetik der Erektion sprechen. Die Art, eine Figur im Bild zu platzieren oder eine leere Landschaft zu filmen, können Weisen werden, «frontal» zu sein, die Einstellung in eine Erektion zu verwandeln.

«Rester vertical», das ist der Versuch der Hauptfigur, auf ihrer turbulenten Irrfahrt aufrecht zu bleiben und nicht umzufallen, meint aber auch ein «Hartbleiben» im sexuellen Sinn. Was zweifelsohne eine der schönsten Aspekte an Guiraudies Film ist: Das Begehren hat kein klares Objekt; es hat keine angenehmen Rahmenbedingungen, setzt sich aber dennoch immer wieder durch, bleibt «fest». Léo ist in der Bredouille, gejagt von seinem Produzenten, in Dauergeldnöten, obdachlos, alleinerziehender Vater eines Säuglings – aber nach wie vor geil.

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Auch und gerade die Geburt des Babys filmt Guiraudie wie eine Erektion (es handelt sich um eine echte Geburt, die hier gezeigt wird), wenn das Baby aus der Mutter herauskommt, sich «aufrichtet», hinein in diese Gruppe aus Männern. Marie will mit dem Kind nichts zu tun haben, also werden es die Männer grossziehen. Rester vertical ist auch ein Film über die Gemeinschaft, die von diesem Baby errichtet wird. Aber was erigiert ist, kann auch wieder erschlaffen. So geht es einem Penis, den Guiraudie einmal zeigt, und so geht es auch dem sozialen Gefüge, das durch das Kind entsteht. Ein Gefüge, das keinerlei Kohäsion hat und bedroht bleibt wie die Schafsherde im Film von einem Wolfsrudel.

Die Gemeinschaft besteht aus Nomaden, ist ständig on the move. Die Mutter verlässt Léo und ihr Kind und zieht weg vom Bauernhof, ihr Vater Jean-Louis hat Angst, dass daraufhin Léo ihn mit dem Kleinen sitzenlassen wird. Und der junge Yoan, der wie Léo aus dem Nichts kam und bei Marcel gestrandet ist, wird seinerseits vorübergehend abhauen. Die unruhig sich ausdehnende Fluchtlinie des Films ist ein Band, das Einzelne miteinander verbindet oder nicht, fest ist oder nicht, aufgerichtet ist oder schlaff. Wo die Bindung vermeintlich naheliegt, lauert schon die Abkopplung. Es gibt kein Ideal der Mutterliebe, keine natürlichen und selbstverständlichen Gemeinschaften, keine selbstverständlichen Zuwendungen. Weswegen Léo hier sein eigenes Kind adoptieren wird, als wäre er ein Tramp wie Chaplin, dem in The Kid die Sorge um ein Waisenkind zufällt.

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Diese Gemeinschaft ist keine Gemeinschaft unter Nächsten; sie ist nicht nah oder gegenwärtig, sondern angesiedelt in der Ferne des Mythos. Daher die traumhafte, bukolische Seite des Films: Léos Begegnung mit Marie, der Schäferin, auf der Weide; die Bedrohung der Herde durch lange nicht auftauchende Wölfe, die eine mythisch anmutende Gewalt ausüben; die Begegnung mit einer Naturheilerin in einem verwunschenen Wald. Die Affekte fliessen durch die Natur, wie in Renoirs Partie de campagne oder Apichatpong Weerasethakuls Blissfully Yours. Aber hier bleibt diese bukolische Dimension herzlich unidyllisch. Die letzte halbe Stunde ist ein Albtraum. Léo verarmt, verliert das letzte Hemd und sein Kind, wird des Mordes verdächtigt. Man könnte auch sagen: Dieser Traum ist ein Albtraum, weil er wahr ist, weil es eine Wirklichkeit gibt, die in ihm persistiert, «erigiert» bleibt.

Auch in Lav Diaz’ Century of Birthing und Ar­naud Desplechins neuem Film Les fantômes d’Ismaël bekommen Regisseure ihre Filme nicht fertig und schliddern in Selbstzerstörung und Wahnsinn hinein. In Rester vertical hingegen herrscht grosse Klarheit. In keinem Moment verliert Léo den Verstand und Guiraudie die Orientierung. Indem er mit einem unvollendeten Filmprojekt spielt, adressiert er ein «Aussen» des Kinos, macht das Kino zum sozialen Instrument, das eine unruhige Gemeinschaft webt: Léo wird einen veritablen Sohn des Kinos grossziehen, der diesem entwachsen wird.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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