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Roma

Das Private ist politisch. Das zeigt sich bei Alfonso Cuaróns filmischer Kindheitserinnerung sogar in der Bildgestaltung, in der hintereinandergeschichtet wird, was zusammenhängt.

Text: Murièle Weber / 05. Dez. 2018

Der grosse Gesellschaftsroman gehört zu den ambitoniertesten Formen der Weltliteratur. Thomas Manns «Buddenbrocks» ist das wohl berühmteste Beispiel oder die wunderbaren Romane aus Lateinamerika wie «Cien años de soledad» von Gabriel García Márquez oder «La casa de los espiritus» von Isabel Allende. Allen dreien ist gemeinsam, dass die Romane zumindest lose auf den eigenen Kindheitserinnerungen basieren und anhand der Familie zugleich auch von den sozialen und politischen Umwälzungen ihrer Zeit erzählen. Mit seinem neusten Werk Roma legt der Regisseur Alfonso Cuarón nun seine filmische Version des Gesellschaftsromans vor.

Von drei Prämissen geht der Filmemacher dabei aus: Er wollte vom Leben des Hausmädchens seiner Familie erzählen, die hier im Film Cleo heisst. Dazu wollte er zweitens nur seine eigenen Kindheitserinnerungen nutzen. Und drittens sollte die Geschichte in Schwarzweiss verfilmt werden. «Ich wollte mich den Elementen, die mich erschaffen haben, widmen», erklärte Cuarón am diesjährigen Filmfestival von Toronto. «Den Frauen, der Familie und dem Land, die mich geformt haben.» Entstanden ist eine Hommage an starke Frauen und seine Kindheit um 1970 im Stadtteil Roma in Mexiko-Stadt. In drei parallelen Handlungen erzählt er von Cleos ungewollter Schwanger­schaft, der Scheidung der Eltern und einem Massaker an Studierenden.

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Während die Literatur nur indirekt mit seiner Ge­schichte zugleich auch von den zeitgleich sich ereignenden sozialen und politischen Umwälzungen erzählen kann und somit gezwungen ist, zwischen den zwei Ebenen hin und her zu springen, kann das Medium Film solche Gleichzeitigkeit weit unmittelbarer zeigen. So etwa durch die Verwendung von Plansequenzen und einer Mise en Scène, in der verschiedene Handlungsebenen innerhalb eines einzigen Bildes hintereinandergeschichtet werden. Über Jahrzehnte hat Cuarón diese Technik perfektioniert, die er das erste Mal in Great Expectations (1998) eingesetzt hatte und die in Gravity (2013) mit einer komplex verdichteten, siebzehnminütigen Sequenz ohne einen einzigen Schnitt ihren Höhepunkt fand. Bereits in Y Tu Mamá También (2001) nutzte er sie als Möglichkeit, um buchstäblich neben der fiktiven Geschichte auch noch die politische Vergangenheit seiner Heimat Mexiko zu kommentieren. So etwa, wenn die Kamera zugleich mit den beiden jugendlichen Protagonisten, die mit ihrer älteren Geliebten einen Roadtrip unternehmen, auch noch das Militär im Hintergrund beobachtete.

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In Roma wechselt Cuarón zwischen langen, fast meditativen Einstellungen, in denen Cleo, das Hausmädchen, ihre täglichen Pflichten verrichtet, und komplexen Plansequenzen, in denen so viele Akteur_innen zu sehen sind, dass die Einstellungen oft einem Wimmelbild gleichen.Die tiefenscharfen Bilder halten dabei eine Fülle von Eindrücken visuell fest, in einer Dichte, die überwältigend ist – so wie es damals wahrscheinlich auch für das Kind Alfonso überwältigend gewesen sein muss. Da sitzen Cleo und ihre Freundin in einem Restaurant an der Bar, dahinter aber sind auch die Tische mit weiteren Gästen zu sehen und dahinter auch das Treiben draussen auf dem Trottoir, und sogar auf der anderen Strassenseiten sind noch Menschen zu erkennen.

Besonders beeindruckend ist Cuaróns Kunst immer dann, wenn er die Plansequenzen komplex choreografiert, wie etwa die Kriegsszene in seinem Children of Men (2006). Dann wird man hineingesogen in seine Welt und steht plötzlich zwischen all den Menschen seiner Vergangenheit, den Geräuschen und den Eindrücken, und fast hat man das Gefühl, die Szene riechen zu können. Da hetzt Cleo durch die nächtliche Mexiko-Stadt hinter den Kindern her, die vorausgerannt sind. Sie läuft an Leuchtreklamen vorbei, wird fast von einem Auto überfahren und schlängelt sich zwischen Einkaufenden und ihren Hunden vorbei. Die Umstehenden sind dabei nicht einfach Statist_innen, sondern erscheinen als lauter potenzielle Hauptfiguren. Jeder und jede von ihnen befindet sich inmitten einer eigenen Geschichte, die sich mit jener von Cleo kreuzt und derer wir einen Moment lang Zeuge werden.

Oder die Kamera beobachtet einen Brand an Silvester am Waldrand, wobei der ganze Hofstaat der Hazienda des Onkels angelaufen kommt. Die Kamera ist inmitten des Geschehens und fängt ungeschnitten viele kurze Momente ein von Kindern, die mit Kochtöpfen Flammen löschen, Erwachsenen, die Champagner trinkend daneben stehen, oder von mexikanischen Landarbeitern, die zur Seite springen, als ein brennender Baum zu ihren Füssen herunterkracht. Diese Momente signalisieren: All unsere Leben sind miteinander verbunden und kreuzen sich täglich. Die Hauptpersonen in ihrem Leben sind die Nebenfiguren in meinem.

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Und dann ist da eine dieser Szenen, die den Film explizit zum Gesellschaftsroman mit politischer Dimension machen – als im Hintergrund das Corpus-Christi-Massaker vom 10. Juni 1971 zu sehen ist, in dem Studentendemonstrationen von Eliteeinheiten der Armee mörderisch niedergeschlagen wurden. Cleo und die Grossmutter der Familie sind in einem Möbelgeschäft, denn Cleo ist schwanger und braucht ein Kinderbett. Die Kamera folgt den beiden in den Laden und in den ersten Stock. Dann sind Schreie zu hören, die Kamera folgt dem Blick der beiden aus dem Fenster und fängt die Gewalttätigkeiten auf der Strasse ein, dann schwenkt sie zurück auf ein Studentenpaar, das in den Laden geflüchtet ist und sich in einem Schrank versteckt, verfolgt von Männern mit Pistolen, die den Mann niederschiessen und die Frau schreiend zurücklassen, worauf Cleos Fruchtblase platzt. Alles passiert gleichzeitig, das Persönliche vor dem Hintergrund des Politisch-Historischen. Genau so wie auch im realen Leben alles Nebeneinander und doch eng verbunden ist. Und so wie es nur das Medium Film einfangen kann.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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