Filmbulletin Print Logo
Florida project szenen 02 scene picture

The Florida Project

Mit Kinderaugen blickt The Florida Project auf die Realität jener, die sich die kitschigen Träume Amerikas nicht leisten können. Sensibel und genau, fröhlich und leichtfüssig sogar, inmitten einer desolaten Welt.

Text: Till Brockmann / 05. Feb. 2018

Die sechsjährige Moonee benimmt sich wie eine Diva. Sie ist unbesorgt, mächtig frech und – das haben Rotzgören so an sich – sehr niedlich. Dieses Verhalten hat sie zweifellos durch die vorbildliche Nichterziehung ihrer Mutter Halley gelernt, die mit ihrer Ihr-könnt-mich-alle-mal-Attitüde ein Prachtexemplar von Egozentrikerin abgibt. Halley und Moonee bewohnen das Zimmer 323 im Motel The Magic Castle. Magisch ist an diesem Motel allerdings überhaupt nichts, burgenhaft ebenso wenig, sieht man mal von einem lieblos angedeuteten Türmchen und sporadisch von kleinen Zinnen geschmückten Mauerrändern ab, die den hässlichen, lang gezogenen Bau zieren. Ein ausserordentliches ästhetisches Merkmal hat «The Magic Castle» allerdings doch. Ein so einprägsames, dass es noch Stunden und Tage nach dem Kinobesuch alle Erin­nerungsbilder an den Film heimsucht: Es ist komplett in einem satten Violett gestrichen.

Florida project szenen 03 scene picture

Moonee und Halley sind nicht auf der Durchreise und schon gar nicht in den Ferien. Sie und viele andere Einzelpersonen und Kleinfamilien aus der Unterschicht sind in diesem Motel abgestiegen – wobei «abgestiegen» hier durchaus auch im gesellschaftlichen Sinn gemeint ist. Für fünfunddreissig Dollar pro Nacht hat man dort immerhin ein Dach über dem Kopf, und wenn man das Zimmer noch mit etwas eigenem Gerümpel ausstaffiert, kann man es schon fast ein Zuhause nennen. Mit den Nachbarn kommt man einigermassen aus, vorsehen muss man sich eigentlich nur vor Bobby, dem von Willem Dafoe gespielten Manager. Der gibt sich grösste Mühe, etwas Ordnung zu schaffen und sich um das Motel, aber auch um seine ständigen Bewohner zu kümmern. Ungemütlich wird Bobby nur, wenn man mit der wöchentlich fälligen Miete im Rückstand ist oder wenn die wenigen Touristen, die das Hotel für ein paar Nächte gebucht haben, belästigt werden.
Ständig auf die Probe gestellt wird Bobby, ­dessen harte Schale ohnehin nur unzureichend und meistens vergeblich den weichen Kern kaschiert, von der kleinen Moonee und ihren gleichaltrigen Freunden. Sie treiben ihn in den Wahnsinn, doch er hat sie lieb. Die Kinder haben überhaupt keine Probleme, ihre Tage unterhaltsam auszufüllen: Mal organisieren sie ein Wettspucken auf geparkte Autos, mal schmeissen sie Steine in die Fensterscheiben von verlassenen Villen, mal schleichen sie sich in den Technikraum des Motels und drehen die Sicherungen raus. Und dann gehen die Strolche Eis essen. Wenn Erwachsene mit ihnen schimpfen, haben sie sofort eine passende Antwort: «Halt doch die Fresse, du blöde Kuh, du hast uns gar nichts zu sagen.»

Florida project szenen 01 scene picture

Wenn Bobby oder andere sich bei Halley beschweren, nimmt die Mutter ihre Tochter in Schutz. Nicht weil sie von Moonees Unschuld überzeugt ist oder bedingungslos hinter ihr steht, sondern weil sie mit sich selbst schon überfordert und meistens zu bekifft ist. Doch Halley schlägt sich durch und ist so erfinderisch, wie einen die Not dem Sprichwort zufolge macht. Finanziell balanciert die ausgiebig tätowierte Frau ständig auf einem sehr schmalen Grat, kauft zum Beispiel einen Sack voller Billigparfums, die sie dann mit grosser Marge auf den Parkplätzen von Einkaufszentren oder noblen Golfresorts vertickt.
Regisseur Sean Baker inszeniert diesen Alltag lange Zeit unaufgeregt, mit leisen Tönen und grosser Liebe zum Detail. Die soziale Misere, in der sich fast alle Figuren befinden, wird weder voyeuristisch ausgereizt noch verharmlost – etwa in den vielen trotz allem sehr heiteren und humorvollen Szenen. Indirekt wird damit der «unschuldige» Blick der kindlichen Protagonisten übernommen, die ihrer Lebenslage mit lockerer Selbstverständlichkeit begegnen, weil sie nichts anderes kennen. Dennoch lauert im Hintergrund immer die Katastrophe, und gegen Ende des Films verdichten sich die kleinen Aufreger dann auch zu handfesten Krisen von traumatischem Ausmass. Spätestens als Moonee immer öfter in die Badewanne zum Spielen gesetzt wird, während ihre Mutter im Motelzimmer Herren empfängt, vergeht einem das Lachen, und man ahnt: Das kann nicht mehr lange gut gehen.

Florida project szenen 04 scene picture

Baker avanciert langsam zu einer Art amerikanischem Pendant zu Ken Loach, wenn auch mit anderer stilistischer Prägung. Mit Take Out (2004, erst 2008 veröffentlicht) drehte er zusammen mit der Taiwanerin Shih-ching Tsou einen No-Budget-Film über den Alltag illegaler chinesischer Einwanderer in ­Manhattan. Mit Tangerine landete er 2015 einen Festival- und Arthouse-Erfolg: Der Film wurde nur mit der Kamera des iPhone und mit Laiendarstellern gedreht und inszeniert in poppigen Bildern den Alltag von Transgenderprostituierten in Hollywood. Auch The Florida Project verdankt seine beschriebene ­Leichtigkeit und ­Authentizität, die schon fast dokumentarisch daherkommt, einer intensiven und langjährigen Recherchearbeit. Während dreier Jahre haben Baker und sein Produzent Chris Bergoch immer wieder den Schauplatz des Films aufgesucht und im gesellschaftlichen Substrat sondiert.
Neben Willem Dafoe, der sich ebenfalls durch viele Interviews und eigene Recherchen auf seine Rolle vorbereitet hat und hier eine (weitere) Glanzleistung in seiner langen Karriere abliefert, ist der Film mit weitgehend unbekannten, doch gleichermassen überzeugenden Schauspielern besetzt. Allen voran zeigt Brook­lynn Prince als Moonee, zu welcher darstellerischen Intensität und Reife Kinder fähig sind, wenn sie sich vor der Kamera offensichtlich wohlfühlen. Bestechend in ihrem organischen, urwüchsigen Spiel und in ihrer ersten Filmrolle ist aber auch Bria Vinaite als Mutter: Der Regisseur entdeckte sie auf Instagram, wo sie eine grössere Fangemeinde hat und ihre Liebe für Joints preisgibt. Das passt.

Florida project szenen 05 scene picture

Ein Hauptakteur des Films ist aber auch der Ort des Geschehens. Ein desolater Vorort, eine undefinierbare, zersiedelte Peripherie, die sich, so meint man zunächst, überall in den Vereinigten Staaten befinden könnte. Und doch ist der Ort der Handlung kein beliebiger, sondern von besonderer Bedeutung. Die kitschig bunten Läden, in Form einer Orange oder mit einem grossen Zauberer auf dem Dach, die ihre Kundschaft mit heruntergesetzten Disney-Gadgets locken, Stras­sen­­­­­­­­­namen wie «Seven Dwarfs» oder «Prince Street» lassen uns allmählich erahnen, wo wir uns befinden: im Magnetfeld des schillernden Themenparks Disney World in Florida, der nur einen Steinwurf entfernt ist.
Eine sprechendere Topografie kann man sich kaum vorstellen. Wir bewegen uns nicht nur in der Peripherie, sondern auch im geradezu perfid gesetzten Gegenbild zum Disney-Imperium, das von jeher die intakte, optimistische und romantisierte Familien­welt des Durschnittsamerikaners beschwört. Solch kitschige Vorstellungen zerschellen an den violetten Mauern des Motels und an der harten Realität, mit der jene zu kämpfen haben, die hier abgestiegen sind.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

16. Mai 2022

Für immer Sonntag – Zeitdokument der Boomer-Generation

Der Wechsel vom Arbeitsleben in die Rente ist nicht einfach, wie Rudy feststellt. Steven Vit hat im Dokumentarfilm Für immer Sonntag den eigenen Vater begleitet und dabei eine persönliche Annäherung eingefangen und gleichzeitig ein präzises Zeitdokument über die Boomer-Generation geschaffen.

Kino

01. Okt. 1979

Grauzone

Weder schwarz noch weiss, weder Fisch noch Vogel - Grauzonen: Grauzone macht in einem Wort einen schwer zu umschreibenden Zwischenbereich fassbar; ein Niemandsland, ein Zwischending, das keinen bestimmten Namen hat, wird mit der Metapher Grauzone plötzlich benennbar. Grauzonen gibt es, wo wir auch hinsehen, überall in unserem Leben, in unserer Gesellschaft. Man erkennt Grauzonen sozusagen daran, dass man sie nicht eindeutig benennen kann, weil sie in der Grauzone liegen.

Kino

09. Mai 2023

Jung und auserwählt: El agua

Es sollten ausgelassene Sommerferien werden. Doch junge Frauen werden in diesem Dorf vom Wasser heimgesucht. Oder ist das nur ein Aberglaube?