Wajib

Annemarie Jacir
Die Gesellschaftsparabel von Annemarie Jacir findet ebenso verblüffende wie ergreifende Sinnbilder für das Leben in Palästina zwischen Anpassung und Auflehnung, zwischen Tradition und Aufbruch.
Wenn in Palästina jemand heiratet, werden die Einladungen zur Hochzeit meist nicht per Post und schon gar nicht per E-Mail verschickt, sondern noch wie in alten Zeiten persönlich überbracht – und zwar von den Männern der Familie. Diese «schöne Tradition», wie es im Mediendossier zu Wajib heisst, stellen weder die palästinensische Regisseurin Annemarie Jacir noch ihre Figuren infrage. Shadi, der Bruder der Braut Amal, ist zwar wenig begeistert, dass er extra aus Rom anreisen muss, wo er mit seiner Freundin, einer Exil-Palästinenserin, lebt. Um seine «Verpflichtung», wie sich der Titel des Films ins Deutsche übersetzen lässt, zu erfüllen, tut er es aber doch. Zusammen mit seinem Vater Abu Shadi setzt er sich in dessen alten Volvo und tuckert einen Tag lang durch die engen Gassen und Winkel Nazareths. Passend zu diesem symbol- trächtigen Schauplatz steht gerade Weihnachten vor der Tür. Dass Jacirs Film jedoch dazu angetan ist, eine versöhnliche, hoffnungsvolle Botschaft zu vermitteln, muss eher bezweifelt werden.

Vordergründig geht es in Jacirs Miniaturroadmovie um familiäre Konflikte. Im Mittelpunkt steht eine sensible Vater-Sohn-Beziehung, in die gewissermassen aus dem Off auch Shadis Mutter und seine Freundin ihre Schatten werfen. Die Mutter hat die Familie vor Jahren verlassen und lebt mit einem anderen Mann zusammen, der so schwer erkrankt ist, dass sie nun womöglich nicht einmal zur Hochzeit ihrer Tochter kommen kann. Amal weiss davon anfangs noch nichts. Sie erfährt es erst, als sie bei der Suche nach einem passenden Hochzeitskleid in die betretenen Gesichter der beiden Männer blickt. Es ist eine starke Szene, ein berührender Moment, als der Vater die Tochter ohne viele Worte tröstet und sie anschliessend mit leuchtenden Augen darin bestärkt, jenes Kleid zu kaufen, das ihr auf Anhieb am besten gefallen hat. Es sei nämlich wirklich das allerschönste. Ein kostbarer, inniger Augenblick, der die Nähe zwischen den beiden so glaubhaft vermittelt, als wären auch Mohammad Bakri und Maria Zreik Vater und Tochter. Dass sie es nicht sind, ist deshalb erwähnenswert, weil Vater und Sohn im Film tatsächlich mit Vater und Sohn besetzt wurden. Ein Kuriosum, das sich als Glücksgriff erweist, weil es den beiden Darstellern offenbar gelingt, ihre persönliche Beziehung kreativ einzubringen, ohne sich davon allzu sehr vereinnahmen zu lassen. Die Dialoge wirken glaubhaft, authentisch, geben sich deshalb aber keinen pseudodokumentarischen Anstrich. Und anstatt der Enge im Auto mit fuchtelnder Handkamera zu begegnen, lässt Jacir ihren französischen Kameramann Antoine Héberlé (Une Vie) wechselweise von innen und aussen durch die Scheiben hindurch poetisch schillernde Bilder gestalten. Die handlungstreibende Dynamik freilich entsteht auch weiterhin im Wechselspiel von On und Off.

Die andere Frau, von der im Film nur geredet wird, ohne dass sie selbst in Erscheinung tritt, ist Shadis neue Freundin, die Tochter eines in der PLO aktiven Exilanten, deren Familie die Einreise nach Israel verwehrt wird. Shadis Vater ist davon wenig angetan. Er hält nicht viel von den im Exil lebenden «Sofarevolutionär_innen», die zum Widerstand aufrufen, ohne zu wissen, was das für das palästinenische Volk in Israel bedeutet. Shadi wiederum kritisiert seinen Vater dafür, dass er versucht, sich anzupassen, zu arrangieren. Schnell wird klar, dass es in diesem Generationenkonflikt nicht nur um Shadis lange Haare und seine bunten italienischen Hemden geht, sondern um etwas Grundsätzliches. Die Familie entpuppt sich als Pars pro Toto des palästinensischen Volkes.
Ins Zentrum des Films rückt damit der Konflikt zwischen den Palästinenser_innen innerhalb und ausserhalb Israels. Der Ruf nach Widerstand, Gerechtigkeit und Freiheit steht dem Streben nach einem glücklichen, friedlichen Leben entgegen. Wie weit sich beide Gruppen voneinander entfernt haben, zeigt sich beispielhaft in einer eindrücklichen Szene, in der Abu Shadi mit dem Vater von Shadis Freundin telefoniert und ihm davon vorschwärmt, wie schön es doch in Nazareth sei. Er fabuliert von grünen Hügeln, Orangenbäumen und einem in der Sonne schimmernden See, während sie durch die staubigen Hinterhöfe eines verwahrlosten Palästinenserviertels kurven. Zwei Irrwege kreuzen sich in diesem kraftvollen cineastischen Sinnbild: Der eine weiss nichts von der sozialen Realität, der andere will sie nicht wahrhaben. Wem in dieser Gemengelage jedoch allenfalls eine Statistenrolle zukommt, sind der israelische Staat und die israelischen Juden. Israel, das ist – unausgesprochen zwar, aber doch spürbar – der Feind.

Den Nahostkonflikt, das bezeugt ihre Biografie, hat die palästinensische Regisseurin und Drehbuchautorin Annemarie Jacir von mehreren Seiten kennenlernen müssen. Ihrem Film merkt man das an. Sie stammt aus einer alten, einflussreichen christlichen Familie Bethlehems, wuchs in Saudi-Arabien auf, studierte Film an der Columbia University in New York und lebte mehrere Jahre im jordanischen Exil, weil
sie nicht nach Israel einreisen durfte. Im Vater-Sohn-Konflikt ergreift Jacir keine Partei. Sorgsam beleuchtet sie das Für und Wider von Kompromissbereitschaft und Radikalität, ohne abzuurteilen. Beide, Abu Shadi und Shadi, argumentieren aus ihren jeweiligen Lebenssituationen nachvollziehbar und überzeugend. Differenziert und feinfühlig kann man das jedoch nur nennen, wenn man stillschweigend akzeptiert, dass es sich vor dem Hintergrund eines vage wabernden israelischen Feindbildes abspielt. Die jüdische Sichtweise jedenfalls findet in Jacirs Film keinen Platz.

Am vermutlich einzigen Juden, den Abu Shadi zum Hochzeitsfest seiner Tochter einlädt, entzündet sich stattdessen ein heftiger Streit zwischen Vater und Sohn: Shadi glaubt, der Regierungsbeamte Ronnie
Avi habe ihn einst denunziert und sei dafür verantwortlich, dass er als rebellischer junger Mann seine Heimat hatte verlassen müssen. Abu Shadi nennt Ronnie Avi zwar einen «Freund». Es wird jedoch schnell klar, dass es ihm vor allem darum geht, sich mit einem mächtigen Mann gutzustellen, der möglicherweise dem berüchtigten Inlandsgeheimdienst Schin Bet angehört. Abu Shadi hofft darauf, an der Schule, an der er unterrichtet, zum Rektor befördert zu werden. Wie sehr er sich vor den israelischen Juden fürchtet, wird deutlich, als er in dem Villenviertel, in dem Ronnie Avi wohnt, versehentlich einen Hund anfährt. Besorgt steigt Abu Shadi aus, um sich um das verletzte Tier zu kümmern. Kaum nähert sich jedoch dessen Besitzerin, ergreift er panisch die Flucht, aus Angst, für einen Terroristen gehalten zu werden. In der Nussschale führt diese Szene das Ohnmachtsgefühl der Palästinenser in Israel als «Bürger zweiter Klasse» vor Augen.

Dass die «Bürger erster Klasse» im Off bleiben und deren Perspektive damit ausgeblendet wird, ist der subjektiv kanalisierten Erzählweise des Films geschuldet. Die lineare Dramaturgie eines mobilen Kammerspiels stösst damit nicht nur weltanschaulich, sondern auch narrativ an ihre Grenzen. Trotz grossartiger Darsteller_innen, filigraner Fotografie und ergreifender Momente zieht sich die Episodenkette auf Dauer arg in die Länge. Die ungelenk hineingezwängten romantischen Intermezzi lassen die eigentlichen Drehbuchabsichten umso klarer hervortreten. Was wie ein lebendiger Ausschnitt aus dem Alltag begann, entpuppt sich schliesslich als sorgsam konstruierte, einseitig arrangierte Gesellschaftsparabel.
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