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The Prince of Nothingwood

Bilder schaffen, gegen alle Wahrscheinlichkeit: Das liebevolle Porträt von Salim Shaheen, der im kriegszerrissenen Afghanistan Kino macht, mit nichts ausser dem eigenen Enthusiasmus.

Text: Philipp Stadelmaier / 23. Mai 2018

Im digitalen Zeitalter mag es mehr als genügend Bilder von der Welt geben, aber nicht alle sind ohne Weiteres zugänglich. An diesem Punkt kommt dann vielleicht das Kino ins Spiel. Nicht, um die Welt visuell zu kartografieren und in eine grosse digitale Enzyklopädie zu verwandeln, sondern um diejenigen Bilder ausfindig zu machen, die zwar, wie so viele andere auch, irgend­wo existieren, aber die man noch wirklich suchen muss und deren Suche eine physische Anstrengung bedeutet, ein Risiko und eine Freude.
Es sind solche raren Bilder, die die Französin Sonia Kronlund in Afghanistan, einem der gefährlichsten Länder der Welt, gesucht und gefunden hat. Seit fünfzehn Jahren, so erzählt sie in The Prince of Nothingwood, reist sie dorthin und berichtet meist
über allerhand Gräuel: Säureattentate auf Frauen, Steini­g­ungen, Selbstmordanschläge. Irgendwann habe sie festgestellt, dass sie bestimmte Bilder verpasst hatte – Bilder, die Kraft, Glauben und Widerstand transportieren. Die Rede ist von Bildern von und mit Salim Shaheen, einem gefeierten Star des afghanischen Kinos, den sie in ihrem Film porträtiert.

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Die zahlreichen Ausschnitte aus Shaheens ­Filmen, die Kronlund einfliessen lässt, zeigen einen Actionhelden, der durch die Gegend reitet und eine Menge Ohrfeigen an böse Buben verteilt, aber auch mal singt und tanzt (Shaheen ist stark vom Bollywoodkino beeinflusst). In dem Moment, in dem Kronlund Shaheen kennenlernt, dreht er gerade vier Filme gleichzeitig. Alles wirkt billig: die Inszenierung, das Schauspiel, die Bildqualität. Gefilmt wird mit einer kleinen Video­kamera, danach zirkulieren die Filme auf DVDs mit ausgebleichten Covern. Das alles tut ihrer Popularität in Afghanistan jedoch keinen Abbruch.
Kraft, Glaube und Widerstand drücken sich dabei auf dreierlei Weise aus: zunächst im Filmemachen selbst. Dieses widersteht nämlich der immensen Gefahr für Leib und Leben, in der Shaheens Filme immer schon entstanden sind. Shaheens Freunde erzählen, wie sie schon im Bürgerkrieg in den Neunzigerjahren gefilmt haben, teilweise unter Raketenbeschuss, wie sie verletzt worden sind und trotzdem weitergedreht haben. Auch in ihrem eigenen Film weist Kronlund immer wieder auf die Gefährlichkeit der Situation im Land hin. Sie begleitet Shaheen in die Bergregion von Bamiyan, wo Beamte für ihre Sicherheit verantwortlich sind. Zu Kronlunds grosser Sorge will Shaheen immer wieder in Gegenden drehen, die wahrscheinlich noch vermint sind. Durch die Montage erfahren wir, was sich während des Drehs in anderen Teilen des Landes abspielt: Anschläge, Kidnapping von Ausländer_innen, amerikanische Luftschläge.

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Zweitens lässt sich das Im-Film-Sein auch als ein Schutzraum verstehen, in dem ausgelebt werden kann, was in der restriktiven Gesellschaft selbst unmöglich ist. Man nehme zum Beispiel die junge Frau, die in einem von Shaheens Filmen mitspielt, und die von Kronlund auch interviewt wird. Ihr Vater ist mit am Set und gibt ihr strenge Anweisungen: nicht tanzen, nicht die anderen seltsam anschauen. Natürlich soll sie dann doch tanzen, in einer recht aufreizenden Szene, aber Shaheen kriegt es so hin, dass der Vater offenbar nicht protestiert, obwohl er sich sichtlich unwohl fühlt. Film, das ist für die Schauspieler_innen die Möglichkeit, sich trotz sozialer Repression ein wenig Freiraum zu ergattern, der ausserhalb des Drehsets kaum zu haben ist. Das gilt insbesondere für Qurban, einen queeren Schauspieler mit Hang zur Travestie, der mit Vorliebe weibliche Rollen spielt.
Der dritte Aspekt, durch den sich Kraft, Glaube und Widerstand ausdrücken, ist die Rezeption der Filme. Ein Mann, den sie in den Bergen treffen, erzählt, wie er sich während der Talibanzeit einen Fernseher geliehen hatte, um einen Shaheen-Film zu sehen, die Taliban ihn aber auf dem Rückweg abfingen und das Gerät zerstörten. Er besorgte sich ein neues und schaute den Film dreimal hintereinander. Das Filmeschauen ist mit dem Verbotenen konnotiert, und auch Shaheen erzählt, wie er sich früher heimlich ins Kino geschlichen hatte und schliesslich von Eltern und Brüdern für seine Liebe zu Film, Tanz und Gesang verprügelt wurde.

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Selbst wenn die Filme mitunter auch auf Youtube zu finden und Teil des globalen digitalen Magmas sind, sie sind auch physische Gegenstände, die man in einer entlegenen Bergregion auftreiben muss. Sie machen eine konkrete körperliche Anstrengung erforderlich, sind von der physischen Wirklichkeit kaum unterscheidbar. Diese Filmbilder sind wie Körper, die ihren Akteur_innen eine konkrete physische Freiheit garantieren, es sind Bilder wie Handgranaten, die jederzeit explodieren können. «Wir liessen unser Blut für das afghanische Kino», erklärt Shaheen, als er von den Zeiten spricht, in denen er Kommandant war und eine Gruppe von Kämpfern befehligte, mit denen er Filme drehte, so wie heute seine Schauspieler oft Soldaten spielen, die kämpfen müssen und unter dem Gebrüll des Regisseurs wie unter einem General agieren. Shaheen ist ein Künstlerkommandant, der die Grenze zwischen physischer Wirklichkeit und Kino auflöst.
Auf diese Weise nähern sich Kronlund und Shaheen auch einem Moment an, in dem physische Wirklichkeit und Bilder nicht getrennt sind – als läge dieser Moment noch vor der Erfindung und der Existenz des Kinos. Das afghanische Kino sei «Nothingwood», erklärt Shaheen, weil es mit nichts gemacht wird und es in Afghanistan keine Filmindustrie gibt. So liegt die Faszination der Zuschauer_innen auch darin, dass sie das Kino gerade zu entdecken scheinen, als sei es eben aus dem Nichts entstanden. Eine Szene, in der Shaheen in einem afghanischen Bergdorf seine Filme mit einem Laptop und einem Beamer zeigt, erinnert an Víctor Erices El espíritu de la colmena. Kronlund filmt die faszinierten Gesichter der Zuschauer, die vor den Heldentaten des Salim Shaheen auf der Leinwand in Verzückung geraten, wie Erice die Gesichter der Kinder gefilmt hat, die in einem kleinen spanischen Dorf während des Spanischen Bürgerkriegs den Horrorfiguren zuschauen, welche die fahrenden Filmvorführer an die Wände des Gemeindesaals projizieren: das Kino als ursprüngliche, faszinierende Erfahrung, im Stadium der Kindheit, das zwischen den Körpern und den Bildern von ihnen noch nicht zu unterscheiden weiss.

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Manchmal wirkt Shaheen, als habe er sein eigenes Leben in einen Film verwandelt. Er erzählt, wie er sich einst als junger Soldat nach dem Angriff auf einen Militärposten tot stellte, um sich vor dem Feind in Sicherheit zu bringen, weil er das so im Kino gesehen hatte. Gleichzeitig ist dies eine Szene in einem der Filme, die er gerade dreht. Als hätte sich der Mann sein eigenes Leben aus dem Kino abgeguckt, um es ihm nun wieder zurückzugeben. Als sei er gestorben, um durchs Kino wiederaufzuerstehen. Als hätte er dabei das Kino zur Welt gebracht, als afghanisches Kino, mit dem sein Körper untrennbar verwoben ist.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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