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Revision

Revision von Philip Scheffner ist ein selbstreflexiver Dokumentarfilm, der die Spuren eines möglichen Verbrechens verfolgt, das vor zwanzig Jahren geschah. Die Suche führt ihn in eine Maisfeld an der deutsch-polnischen Grenze.

Text: Silvia Posavec / 29. Mai 2018

Es ist ein Blick aus dem Fenster, immer wieder ein anderer Ausblick, ein anderer Fensterrahmen. Von diesen Fenstern gerahmt sehen wir mal schlichte Häuserblöcke, Klinkerhäuser und grüne Baumkronen, die sich im Fensterglas spiegeln. Mal zeigt sich ein Blick aus dem Souterrain und ein staubiger Innenhof. Manches Fensterbrett ist mit Blumen üppig dekoriert und der Ausblick durch Vorhänge gefasst, andere sind schlicht, nüchtern und unbewohnt. Der Blick aus dem Fenster ist ein wiederkehrendes Element in Philip Scheffners Dokumentarfilm Revision von 2012. Der Filmemacher nutzt dieses Bild, um die Dramaturgie in seinem filmischen Revisionsverfahren zu strukturieren. Noch bevor dem Publikum das Antlitz der interviewten Personen gezeigt wird, sieht es, was sie sehen, wenn sie aus ihrer Position in die Welt hinausschauen. Man bekommt einen ersten Eindruck von den unterschiedlichen Lebenswelten. Wo befinden sich die Personen und aus welcher Position sprechen sie?

Einstellung als Standpunkt

Scheffner stellt die Romafamilien Velcu und Calderar aus Rumänien vor. Sie beklagen den Tod ihrer Familienväter. Grigore Velcu und Eudache Calderar waren am 29. Juni 1992 auf dem Weg nach Deutschland und wurden in einem Kornfeld an der deutsch-polnischen Grenze erschossen aufgefunden. Die genauen Todesumstände sind den Familien nicht bekannt. Für sie beginnt die Geschichte mit einem schrecklichen Verlust. Ausführlich schildern sie die Konsequenzen, die der Tod der Männer für die Grossfamilien nach sich zog: Armut, Obdachlosigkeit und eine kaum zu überwindende, hilflose Trauer. Die Geschichten der Familien stellen den Ausgangspunkt des Regisseurs dar, von hier aus beginnt seine filmische Revision der Ereignisse. Dazu versetzt Scheffner den Betrachter über die Fenster ins Büro des Kriminalhauptkommissars der Polizeidirektion Anklam und ins Büro der Fachdienstleisterin im Landratsamt Parsewalk. Später bringt er uns in das Arbeitszimmer des Gerichtsmediziners, lässt den Oberstaatsanwalt sprechen und konfrontiert uns schliesslich mit den Aussagen des Anwalts einer der angeklagten Jagdschützen. Die Fensterdekorationen der Protagonisten spiegeln die Sachlichkeit ihrer Schilderungen: In der Nacht vom 29. Juni 1992 waren drei Jäger im Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland auf der Pirsch. Um 03:21 schossen zwei von ihnen auf eine Gruppe illegaler Einwanderer in einem Kornfeld, weil sie sie nach eigenen Aussagen für Wildschweine hielten.

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Mit jedem neuen Fenster öffnet sich eine neue Perspektive auf das Ereignis von 29. Juni 1992. Im Verlauf des Films wird deutlich, wie viele Menschen in die Ermittlungen in Deutschland involviert waren. Ermittlungen, von denen die Angehörigen in Rumänien nie erfahren haben. Die Blicke aus den Fenstern werden zu kurzen Momenten des Innehaltens vor jedem Interview, in dem neue Erkenntnisse zutage gebracht werden. Der jeweilige Fensterausblick ist ein ergänzendes Bildelement. Es ist eine kleine Hilfestellung des Regisseurs und ermöglicht es, uns im Filmverlauf zu orientieren.

Aufnahme als Beweis

Eine Sequenz fällt besonders auf: Aufgrund ihrer Stellung, einerseits in der zeitlichen Verortung in der Mitte des Films und andererseits wegen der Positionierung der Filmkamera, kann sie als argumentativer Eingriff des Regisseurs gelesen werden. Scheffner will wissen, wie die tatsächlichen Sichtverhältnisse auf dem Feld an jenem Morgen im Jahre 1992 waren. Er formuliert keinen direkten Vorwurf gegenüber den Jägern und beschränkt sich in seinem filmischen Revisionsverfahren nicht auf Zeugenaussagen von Beteiligten. Stattdessen startet der Filmemacher ein Experiment und lässt uns an seinem Erkenntnisprozess teilhaben. Er recherchiert Fundstelle und Standort, berücksichtigt das Equipment der Jäger und rekonstruiert, astronomisch akkurat, die Helligkeit (alternativ Klarheit) des besagten Morgens. Filmisch bezeugt er, wie gut die Sichtverhältnisse wirklich waren. Scheffner veranschaulicht eine These, ohne sie jemals wirklich ausgesprochen zu haben, und nährt damit die Zweifel der Zuschauer am erfolgten Ermittlungsverfahren der deutschen Behörden. Er praktiziert eine audiovisuelle Form der Beweisführung und vervollständigt seine filmische Revision durch eine eigene Inaugenscheinnahme. Die Beweisaufnahme zeigt die aufklärerischen Ambitionen des Regisseurs und belegt etwas, das mit keinem Interview ausgedrückt werden kann. Scheffner schafft neues Beweismaterial, das er unkommentiert stehen lässt.

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Wiederholung als Fragestellung

So, als wollte er sich rückbesinnen auf die eigentliche Mission, der er sich in seinem Film verschieben hat, kehrt Scheffner immer wieder zum Ausgangspunkt seiner dokumentarischen Reise zurück. Er filmt wiederholt das Feld an der deutsch-polnischen Grenze. Auf dem ehemaligen Kornfeld wächst heute Mais. Scheffner zeigt raschelnde Maisblätter, ein wogendes Maismeer im Wind und eine breite Schneise, die mit schweren Gerätschaften in das Feld gezogen wurde. Er filmt von oben den Schatten eines nahe gelegenen Windrades auf der grün bewachsenen Fläche. Was verändert sich wirklich in den Aufnahmen? Das Maisfeld? Die Lebensrealitäten der Familien im Zuge der neu erlangten Erkenntnisse? Oder ist die einzige Veränderung nur eine Kameraeinstellung? Philip Scheffners Versuch, das Feld filmisch zu erfassen, geht einher mit dem Versuch, den Fall der erschossenen Rumänen einer Revision zu unterziehen.

Montage ist die bewusste Organisation des Filmmaterials. Indem Scheffner die Aussagen der Familie an den Anfang seines Films stellt, gibt er ihnen ein besonderes Gewicht. Alle folgenden Interviews müssen sich an der Intensität dieser Aussagen messen, und die Befragten geraten teilweise in Erklärungsnot. Die experimentelle Beweisaufnahme der Sichtverhältnisse im Maisfeld wird zum Schlüsselelement in Scheffners Dokumentarfilm Revision. Als Beleg steht sie im Zentrum und lenkt die Argumentation seiner Filmarbeit in eine Richtung. Durch die Beweiskraft, die die Filmsequenz für sich beansprucht, vermag sie ebenso eine argumentative Eigendynamik aufzubauen. Doch letzten Endes führen alle Schnitte zurück an jenen Ort an der deutsch-polnischen Grenze. Der Film führt einen zurück zum dicht bewachsenen Maisfeld, das sich auch nach 1:45 Minuten nicht in seiner Vollständigkeit darstellen lässt.

Dieser Text entstand im Rahmen des «Netzwerks Filmpublizistik», einer Zusammenarbeit zwischen dem Master Kulturpublizistik an der ZHdK, dem Schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten (SVFJ) und Filmbulletin.

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