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Paths of the Soul /Kang Rinpoche

In seinem halbdokumentarischen Roadmovie schickt der chinesische Regisseur Zhang Yang eine Gruppe von tibetischen Pilgern auf eine aussergewöhnliche Reise.

Text: Tereza Fischer / 08. Mai 2018

Tausende, gar Millionen Kotaus haben die Pilger_innen in Zhang Yangs Halbdokumentarfilm vor sich, als sie sich entschliessen, von ihrem kleinen Dorf in den tibetischen Bergen 1900 Kilometer nach Lhasa und auf den heiligen Berg Kang zu wandern. Ein Kotau ist eine demütige Verbeugung auf dem buddhistischen Weg zum wahren Glauben. Sie wird alle paar Schritte ausgeführt, indem man die Hände dreimal zusammenschlägt, bevor man sich flach hinlegt und mit der Stirn den Boden berührt, wieder aufsteht und weitergeht. Die Hände sind dabei durch kleine Holzplanken geschützt, der Körper durch eine Schaffellschürze.

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Zhang Yang, der im Westen mit seiner Komödie Shower (Xi zao) und dem semifiktionalen Porträt eines drogensüchtigen Schauspielers Quitting (Zuotian)bekannt wurde, wollte mit seinem neusten Projekt das Filmemachen für sich neu entdecken. Zusammen mit den elf Laiendarsteller_innen hat auch er fast ein Jahr lang eine anstrengende Reise durch die überwältigende Landschaft Tibets unternommen. Um die Pilgerwanderung herum konstruierte er einen minimalistischen Plot: Um seinem alten Onkel einen grossen Wunsch zu erfüllen, beschliesst Nyima, ihn mit seiner Familie auf dem langen Weg nach Lhasa zu begleiten. Auch seine etwa zehnjährige Tochter und seine schwangere Schwiegertochter gehen mit.
In der ersten halben Stunde lernen wir die Protagonist_innen und ihr alltägliches Leben kennen. Bereits die erste Aufnahme, ein Establishing Shot des Dorfes, entführt uns in eine erhabene Berglandschaft , weit entfernt von der modernen Zivilisation. Im Innern der Häuser gibt es zwar Strom, der ab und zu ausfällt, sonst aber spielt sich das Leben gleich wie vor Jahrhunderten ab: zwischen Yakzucht und Holzfällen, zwischen Gersteanbauen und Beten. Den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod, den hier jeder demütig anerkennt, skizziert Zhang Yang mit zwei aufeinanderfolgenden Szenen, in denen er gleichzeitig die Figuren einführt. Zunächst sehen wir das junge Paar, das ein Kind erwartet, wie es Lämmern zuschaut, die ganz ohne menschliche Hilfe auf die Welt kommen. Danach wird uns der Dorfmetzger beim Schlachten eines Yaks vorgestellt. Wie selbstverständlich und elementar das Leben hier verläuft, verdeutlicht aber am schönsten die Begrüssung, mit der der Onkel einen anderen Hirten auf der Weide begrüsst: «Du bist da!» In dieser einfachen Feststellung steckt Dankbarkeit, Anerkennung und Demut gegenüber dem anderen.

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Die Beweggründe für die Pilgerreise sind unterschiedlich: Hoffnung auf Glück, eine bessere Wiedergeburt oder Heilung. Der Metzger, der seine Schuld am Tod vieler Tiere in Alkohol ertränkt, will nun seine Seele reinigen. Mit einem kleinen Traktor mit einem Anhänger, in dem Zelte, ein Ofen und Lebensmittel transportiert werden, brechen sie auf. Anfangs werfen sie sich bei den Kotaus energisch auf den Boden und schlittern über den Asphalt, werden mit der Zeit jedoch müder, und die Schritte zwischen den Verbeugungen werden zahlreicher. Auf der langen Wanderung trotzen sie jedem Wetter, überwinden hohe Pässe und überflutete Strassen und werden beinah bei einem Steinschlag verletzt.

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Wie viel Zeit jeweils zwischen den Stationen und Ereignissen vergeht, bleibt offen. Dass es Monate dauert, bis die Pilger_innen ihr Ziel erreichen, lässt sich am kleinen Dingzi Dengda ablesen, der bald nach dem Aufbruch auf die Welt kommt und am Ende beinahe schon alleine laufen kann. Auch während der Reise wiederholt sich also die Darstellung des natürlichen Lebensrhythmus: Dingzi Dengda kommt nicht allzu lange nach Beginn der Reise auf die Welt, und am Ziel auf dem heiligen Berg stirbt der Onkel. Auch dank Montagesequenzen, unbestimmten Ellipsen und fehlenden Zeitangaben verfliesst die Zeit zum meditativen Jetzt. Wann was geschieht, wird unerheblich, in den Vordergrund treten der Glaube und basale Strukturen des menschlichen Zusammenlebens. Doch auch diese menschliche Dimension verliert angesichts der mythischen Landschaften zugunsten einer weiteren universellen Konstante, des Raumes, an Bedeutung. Kameramann Guo Daming positioniert die Pilger_innen oft vor eindrücklichen Bergkulissen als verschwindend kleine Figuren am unteren Bildrand. Raum und Zeit werden transzendiert.

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Nicht zuletzt aufgrund dieser wiederkehrenden metaphysischen Bilder einer offenen Landschaft erinnert Paths of the Soul an Daoma zei (Der Pferdedieb) von Tian Zhuangzhuang, ein Schlüsselwerk der Fünften Generation chinesischer Filmemacher. Die Parallelen zu Daoma zei sind zahlreich, denn Tian arbeitete ebenfalls mit Laiendarsteller_innen, die eine Familie im tibetischen Hochland spielten, auch sie leben intiefer Spiritualität und unter Einhaltung von traditio­nellen Riten und Gebräuchen, in Demut und im Einklang mit der Natur. Dadurch war Tians Werk 1986 hochpolitisch, denn es stellte einen radikalen Gegenentwurf zur kommunistischen Negation von kulturellen Wurzeln dar. Während vor dreissig Jahren die chinesische Zensur den Film aus ebendiesen Gründen verbot, läuft Zhang Yangs nun als «long biao» mit dem offiziellen Drachenlogo des staatlichen Filmbüros. Auch wenn Zhang den Tibet-China-Konflikt nie auch nur andeutet, alleine durch seine Nähe zu Daoma zei zeigt sich die kritische, politische Dimension von Paths of the Soul. Auch heute noch lässt sich die Hinwendung zu traditionellen Gemeinschaften als Kritik an der eigenen lesen, als Gegenentwurf. Die chinesische Gesellschaft krankt an kultureller Entwurzelung und der rasanten ökonomischen Entwicklung, die wenig Rücksicht auf Natur, Tradition und individuelle Freiheit nimmt. So lassen sich die riesigen Lastwagen, die gefährlich nah an den Pilgern vorbeidonnern, auch als Zeichen der rücksichtlosen Politik Chinas lesen – gegenüber Tibet und gegenüber der eigenen Traditionen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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