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Hereditary

Ein Leben wie im Puppenhaus – nur nicht so putzig. Schleichend wird aus einer Familientragödie der blanke Horrror.

Text: Michael Ranze / 16. Juli 2018

Willkommen bei den Grahams: Annie ist Künstlerin, die Miniaturmodelle von Häusern und Wohnsituationen herstellt, die immer mehr ihrem eigenen Leben gleichen. Schon im ersten Bild fängt die Kamera eines dieser Häuser ein und konzentriert sich auf ein Stockwerk. Plötzlich befinden wir uns im Schlafzimmer des Sohns der ­Grahams. Modellwelt mit Miniaturfiguren trifft auf reale Welt mit Menschen. Ein eigentümlicher Effekt, der die Familie als Bewohner_innen eines Puppenhauses erscheinen lässt: Sie haben keinen Einfluss auf ihr Schicksal und stehen den nun folgenden Ereignissen machtlos gegenüber.

Hereditary szenen 02 annie toni collette

Annie ist mit dem bodenständigen Steve verheiratet, gemeinsam haben sie zwei Kinder: den heranwachsenden Peter, der sich gerade mit der Pubertät herumschlägt, und die jüngere Charlie, die irgendwie anders ist: scheu, unansehnlich und unberechenbar. Und: Sie leidet an einer Nussallergie – ein sorgfältig platzierter Hinweis, dem später noch eine grosse Bedeutung zukommen wird. Die Normalität erhält im Folgenden immer mehr Risse. Als zunächst Annies Mutter Ellen stirbt, versucht die Tochter irgendwie mit dem Verlust umzugehen. Aber sie ist nicht so traurig, wie sie meint, sein zu müssen. Darum besucht sie heimlich die Treffen einer Selbsthilfegruppe. Derweil wird die Stimmung im Haus der Grahams immer beklemmender und irritierender, nicht zuletzt, weil Annie dem Geist ihrer Mutter im Arbeitsstudio begegnet. Und dann nötigt sie Peter, seine schwierige Schwester auf eine Party mitzunehmen. Dabei hätte er sich dort lieber um ein gleichaltriges Mädchen gekümmert, für das er aus der Ferne schwärmt. Die Party endet mit einem Schock, über den an dieser Stelle nichts verraten werden soll. Nur so viel: Den Grahams stösst etwas Schreckliches zu, so schrecklich, dass auch wir einige Zeit brauchen, um uns davon zu erholen. Vergessen werden wir diesen Schock jedenfalls nicht – wie ein bleierner Schleier legt er sich auf das nun folgende Geschehen.

Hereditary szenen 04 charlie milly shapiro

«Hereditary» – «erblich» auf Deutsch: Der Filmtitel ist ein Hinweis darauf, dass diese eigentlich so normale Familie mit einem Fluch belegt ist, der sich mit dem Tod der Grossmuter ungehindert Bahn bricht. «Sie war stur – was mich erklärt», sagt Annie in ihrer Trauerrede auf Ellens Beerdigung, die Bedeutung der Vererbung noch unterstreichend. Mit anderen Worten: Man kann sich nicht aussuchen, wie man wird.
So nimmt der Film von Ari Aster eine unbeschreibliche Wendung, die den Film zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle macht. Die Familientragödie wandelt sich zum übernatürlichen Horrorfilm, der einem in seiner Unberechenbarkeit jeglichen Halt verweigert. Wer dieses plötzliche Umschlagen von der Realität ins Fantastische nicht akzeptiert, dem wird sich die sorgsam in Wellen aufgebaute Spannung des Films nicht mitteilen. Hier geht es nicht um Action, sondern um eine schleichende Veränderung, die die Familie der Grahams auseinanderzureissen droht, fast so, als sei sie Objekt eines übergeordneten Masterplans. ­Hereditary schliesst mit diesem Themenkomplex an Asters Kurzfilme Munchhausen (2013) – eine Mutter versucht, den Auszug des Sohns zu verhindern – und The Strange Thing about the Johnsons (2011) über inzestuösen sexuellen Missbrauch an. Aster selbst nennt als Einflüsse noch Robert Redfords Ordinary People, Ang Lees Ice Storm und Todd Fields In the Bedroom: die Familie als Schreckensszenario. Hereditary lässt sich aber mit seinen beängstigenden Bildern am ehesten mit The Babadook und It Comes at Night vergleichen.

Hereditary szenen 06 annie toni collette

Die Gefährdung der Familie lässt sich vor allem an der Darstellung von Toni Collette festmachen, die der Mutter eine bewundernswürdige Vielschichtigkeit und Ambivalenz verleiht. Collette sät beunruhigende Zweifel an ihrer Figur, an ihrer Empathie, Freundlichkeit und Lebenstüchtigkeit, vielleicht sogar an ihrem Verstand. Hat sie wirklich den Geist ihrer Mutter gesehen? Und darf eine Mutter ihrem Sohn mit so viel Hass und Wut begegnen? Schlagartig gibt es keine Sicherheit mehr. Auch über die Aussage des Films kann man streiten: Geht es hier um Trauer und Verlust, um Verzweiflung und Schuld, um Familienbande und Mutterliebe, um ein fluchbesetztes Erbe, auf das der Filmtitel verweist? Oder um fantasievollen Horror, der uns wie ein Albtraum verfolgt?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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