Where We Belong

Jacqueline Zünd
Jacqueline Zünd filmt Scheidungskinder in komponierten Einstellungen. Ein Portraitfilm aus intimer Distanz.
Am Anfang fallen Bild und Ton auseinander. Romantische Aufnahmen einer unbeschwerten Kindheit oszillieren verspielt zwischen haptischer Nähe und verträumter Distanz. Die Zwillinge Alyssia und Ilaria, acht oder neun Jahre alt, tauchen im Meer, spielen am Strand im Sonnenuntergang oder fahren auf einer blinkenden Bahn in einem Freizeitpark. In präzis komponierten Bildern fängt Nikolai von Graevenitz’ Kamera die entspannte Freude im Wasser oder auf dem Rummelplatz ein. Doch wenn die beiden aus dem Off zu erzählen beginnen, löst sich die Idylle auf – oder eher: sie reibt sich an den schönen Bildern, die die Off-Erzählungen untermalen. Eine Kluft tut sich zwischen Ideal und Realität auf, einer Realität von heute mehr als einem Drittel der Kinder in der Schweiz: Die Eltern haben sich getrennt. Die beiden Schwestern pendeln zwischen zwei Orten, die sie Zuhause nennen. Überraschend abgeklärt erzählen sie von der Trennung, von der anfangs viel zu kleinen Wohnung des traurigen Vaters, von der Sorge um die Eltern und von den neuen Partner_innen der Eltern. Vater und Mutter sind kaum je zu sehen oder zu hören; die Bühne gehört ganz den Kindern.
Auch in ihrem dritten Langdokumentarfilm nach Goodnight Nobody (2010) und Almost There (2016) beschäftigt Jacqueline Zünd das Thema der Einsamkeit und der Isolation. Nach Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, und drei Herren, die sich auch im Alter nach Glück und Liebe sehnen, hört Zünd nun Kindern und Jugendlichen zu, die mit ihren Sorgen um die getrennten Eltern, mit ihren Loyalitätskonflikten alleine sind. Die Verhältnisse der Zwillinge haben sich seit der Trennung stabilisiert, und die beiden scheinen ihre Kindheit mehr oder weniger unbeschwert zu erleben. Dieses Glück haben die anderen Protagonist_innen nicht: Die Basler Teenager Carleton und Sherazade gerieten zwischen die streitenden Eltern und leben nun in einem Heim. Eloquent und reflektiert berichten sie über ihre Ängste, die innere Zerrissenheit, die Schuldgefühle, wirken dabei dennoch erstaunlich selbstbewusst und mit dem Schicksal versöhnt. Ihre Erzählung und noch mehr die des Bauernjungen Thomas machen jedoch erschreckend deutlich, wie wenig die Kinder jeweils die Gründe für die Zerstörung der Familie kennen und wie brutal es für sie sein muss, das Geschehen zu akzeptieren. «Was willst du machen?», sagt Thomas. Er ist in seiner Erzählung weit entfernt von der kreativen Sprachgewandtheit von Carleton und Sherazade; konzentriert sich darauf, sachlich zu beschreiben, zu welchen Verzweiflungstaten ihn die Situation getrieben hat, nachdem die Mutter den Bauernhof und die Familie verlassen hatte.

Zünd vermeidet klassische dokumentarische Settings: Die Protagonist_innen sprechen direkt in die Kamera, und von den Fragen der Regisseurin ist nichts spürbar. Die Erzählungen scheinen einem intrinsischen Bedürfnis zu entspringen. Das wirkt authentisch – und inszeniert zugleich. Dieser Eindruck lässt sich mit der Ästhetisierung erklären, die jede einzelne Einstellung durchdringt und dem Dokumentarischen unweigerlich einen fiktionalen Anstrich verleiht. Die (meist statischen) Einstellungen sind durchkomponiert – was dem Auge schmeichelt, aber zu einer Irritation führen kann, die sich durch Zünds Werk zieht: Wenn etwa Carleton in einer Einstellung alleine, im Bild zentriert auf einer Terrasse steht und die blinkenden Lichter einer weit entfernten Kirmesbahn betrachtet, dann ist dies das perfekte Bild für Einsamkeit. Gleichzeitig aber wirkt der Junge ins Bild hineinkomponiert und verliert seine Individualität und Selbstbestimmtheit. Ihm wird etwas von aussen übergestülpt, das paradoxerweise sein Inneres darstellt.
Man kann Zünd nicht vorwerfen, sie würde die Schicksale ihrer Protagonist_innen emotional ausschlachten. Ihre prägnante Handschrift geht eher in die umgekehrte Richtung: in eine komplexe Nähe-Distanz-Beziehung zu den Protagonist_innen. Und eigentlich auch sehr konsequent in Richtung Fiktionalisierung. Der Film will nicht behaupten, das seelische Erleben der Kinder und Jugendlichen zu kennen, und dennoch versucht er sich diesem anzunähern. Er erfindet Bilder für die Gefühle, die sich schwer beschreiben lassen. Und entfernt sich dabei gleichzeitig ein Stück weit von seinen Subjekten … Aus diesen Widersprüchlichkeiten bezieht der Film seine Spannung: Er lässt uns intim an etwas teilhaben und hält uns gleichzeitig auf Distanz, er überwältigt uns nicht, sondern lässt und mit den Protagonist_innen mitreflektieren.

Gefällt dir Filmbulletin? Unser Onlineauftritt ist bis jetzt kostenlos für alle verfügbar. Das ist nicht selbstverständlich. Deine Spende hilft uns, egal ob gross oder klein!