Filmbulletin Print Logo
What they had szenen ov 04 bridget hilary swank nick michael shannon 2018 bleecker street all rights reserved

What They Had

Wenn die Mutter nachts alleine durch Chicago irrt, bleiben Kinder und Ehemann ratlos zurück. Ein Film über Demenz, der sich weniger für die Krankheit selbst interessiert, als für die Reaktionen des Umfelds.

Text: Stefan Volk / 23. Apr. 2019

Es ist Weihnachten, und es schneit in Chicago. Irgendwann in der Nacht schlüpft Ruth aus dem Bett, zieht sich etwas über und schleicht nach draussen. Ihre Schuhe allerdings vergisst sie. In Strümpfen spaziert sie mitten auf der schneebedeckten Strasse davon. Man kann diese ersten Bilder aus dem Drehbuch- und Regiedebüt der Schauspielerin Elizabeth Chomko als Chiffre für die Alzheimer-Krankheit lesen, an der Ruth leidet. Das Verschwinden, der Verlust lässt sich nicht aufhalten, so wenig die Angehörigen das auch wahrhaben wollen.

Ruths liebender Mann Burt und Sohn Nick suchen die Stadt nach ihr ab. Tochter Bridget reist extra aus Los Angeles an. Als sie in Chicago ankommt, ist auch Ruth wieder aufgetaucht. Die junge Ärztin in der Klinik erklärt nüchtern, dass es in solchen Fällen häufig zu sexuellen Übergriffen komme, bei Ruth aber offenbar alles in Ordnung sei. Es ist also nochmals gut gegangen. Dass es so aber nicht mehr weitergehen kann, steht zumindest für Nick, der in Chicago eine Bar betreibt, unumstösslich fest. Auch Bridget, die von ihrer erwachsenen Tochter Emma begleitet wird, möchte ihren Vater behutsam dazu überreden, für Ruth ein Pflegeheim zu suchen, was dieser jedoch kategorisch ablehnt. Wer, so argumentiert hingegen er, könnte sich besser, liebevoller um sie kümmern und die gemeinsamen Erinnerungen am Leben halten als er. Wutentbrannt hält Nick dem entgegen, dass das eigentlich ziemlich egoistisch sei, weil er Ruth dadurch nur ständig an ihre Krankheit erinnere. Dabei sei das doch das einzig Tröstliche an Alzheimer, dass die Kranken irgendwann vergessen würden, dass sie krank sind.

What they had szenen ov 05 bridget hilary swank nick michael shannon 2018 bleecker street all rights reserved
What They Had

Das ist der Kern des Films: Wie soll man als Angehöriger mit dieser unerbittlichen Krankheit umgehen? Aus einer solchen Perspektive ist es nur konsequent, dass die Kamera Ruth nicht folgt, als sie stundenlang im Schneetreiben durch die Stadt irrt. Blythe Danner verkörpert mit viel Charme die süsse, zerstreute alte Dame, die sich immer mehr wie ein kindisch-störrischer Teenager verhält. Anders aber als etwa bei Still Alice von Richard Glatzer steht die Kranke hier nicht im Mittelpunkt. Vielmehr richtet Chomko, die sich für den Film von ihren Grosseltern inspirieren liess, das Augenmerk auf den Rest der Familie, der ein ganzes Bündel eigener Probleme mit sich herumschleppt, die alle rund um Weihnachten zu kumulieren scheinen. Damit aber überfrachtet sie ihre Story. Handlungsstränge, denen man in einer Serie ganze Episoden widmen könnte, werden nur grob skizziert: Emma möchte nicht mehr aufs College; Nick kann sich mit der Bar kaum über Wasser halten; Bridget, die eigentliche Hauptfigur, steckt in einer unglücklichen Ehe fest, und zwischen den aufreibenden Diskussionen mit ihrem Bruder und ihrem Vater bandelt sie noch kurz mit einem ehemaligen Jugendfreund an.

Die aufreibenden Diskussionen aber sind es, um die es eigentlich geht. Hier laufen die Schauspieler_innen zur Hochform auf, erwachen die Figuren zum Leben. Dabei gibt es keine Gewinner_innen, kein Richtig oder Falsch, nur Verletzungen, schmerzhafte und manchmal auch fürchterlich komische Augenblicke. In diesen brodelnden, mal unterschwelligen, dann wieder offen ausbrechenden Konflikten ist das Familiendrama am stärksten; etwa wenn Ruth einen Tacker für ein Telefon hält und die drei Frauen angesichts dieser grotesken Situation in gemeinsames Gelächter ausbrechen, während Nick das Ganze wutschäumend betrachtet, weil er dem so gar nichts Lustiges abgewinnen kann, und Burt betreten beiseite blickt.

What they had szenen ov 06 nick michael shannon emma taissa farmga bridget hilary swank ruth blythe danner burt robert forster 2018 bleecker street all rights reserved

Angesichts der vielen, langen Gespräche und der wenigen, oft kulissenhaft leeren Schauplätze kann die Independentproduktion die biedere Aura eines Kammerspiels nie ganz ablegen. Verstärkt wird dieser Eindruck einer behäbigen Filmstudiobetulichkeit dadurch, dass Chomko ihrem Publikum kaum etwas zumutet und es damit auch Ruth allzu leicht macht, die Würde zu wahren. Zwar kommen die körperlichen und geistigen Ausfallerscheinungen durchaus zur Sprache, wenn beispielsweise Burt erklärt, dass es ihm nichts ausmache, seiner geliebten Frau «den Hintern abzuwischen», oder Nick völlig verstört davon berichtet, dass seine Mutter sich an ihn herangemacht habe. Mitansehen aber braucht man das alles nicht. Man muss es sich vorstellen. Allein, und daran scheitert der Film am Ende, in dieser weichgezeichneten, diskreten Atmosphäre kann man das kaum.

What they had szenen ov 07 bridget hilary swank ruth blythe danner emma taissa farmiga 2018 bleecker street all rights reserved

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

01. Mär. 2017

Loving

Loving ist nicht nur ein Liebesfilm, sondern auch ein wunderbar stiller Versuch eines Oscar-tauglichen Geschichtsfilms über ein Paar, das im Bundesstaat Virginia wegen unterschiedlicher Hautfarbe nicht heiraten darf und es trotzdem tut.