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Grâce à Dieu

Irritierend additiv verknüpft François Ozon drei Fallbeispiele zu einem Panorama des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Dennoch beeindruckt der Mut dieser filmischen Anklageschrift.

Text: Philipp Brunner / 30. Sep. 2019

«Wir wussten es alle, aber wir haben geschwiegen.» Vielleicht ist es diese Dialogzeile, die am besten auf den Punkt bringt, worauf François Ozons neuster Film hinzielt: darauf, endlich das Schweigen über die sexuellen Übergriffe an Kindern durch Priester der katholischen Kirche zu beenden.

Grâce à Dieu erzählt in drei Kapiteln die Ge­schichte von Alexandre, François und Emmanuel, die Ende der Achtzigerjahre als Buben vom gleichen Priester missbraucht wurden. Erst jetzt, da sie längst erwachsen sind und zum Teil eigene Kinder haben, sind sie in der Lage, darüber zu reden. Der Grund dafür ist so einfach wie empörend: Nur aufgrund eines Zufalls erfahren sie, dass Pater Bernard Preynat, der Täter von damals, noch immer im Amt ist, noch immer mit Kindern «arbeitet». Alexandre, der sich nach wie vor als gläubiger Katholik begreift, will zunächst innerhalb der Kirche gegen diese Ungerechtigkeit angehen, sucht das Gespräch mit Preynats Vorgesetzten, einer Kirchenpsychologin und sogar mit dem Täter selbst. Das führt zwar zu etlichen Mitleidsbekundungen, aber weder zur Amtsenthebung noch zur Strafverfolgung von Preynat. Auch der zuständige Erzbischof von Lyon, Kardinal Barbarin, zeigt sich ausgesprochen zögerlich. Erst als François, ein weiteres Opfer, sich an die Polizei wendet, kommt der Stein ins Rollen. Immer mehr Männer, darunter Emmanuel, bringen den Mut auf, zu reden. 2015 gründen sie den Verein «La parole libérée» und zeigen nicht nur den Pater an, sondern auch den Erzbischof, weil dieser Preynats Vergehen vertuscht hat.

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In Frankreich wollten einige den Kinostart von Grâce à Dieu mit dem Argument verhindern, Ozon trage zur Vorverurteilung des Erzbischofs bei. Der Vorwurf ist nicht unbegründet, und wohl deshalb endet der Film mit der Versicherung, sowohl für Preynat als auch für Barbarin gelte bis zum Ende der Gerichtsprozesse die Unschuldsvermutung. Auf der diesjährigen Berlinale lief Grâce à Dieu im Wettbewerb und erhielt den Gros­sen Preis der Jury, während am 7. Januar 2019 fast zeitgleich die Verhandlung gegen Kardinal Barbarin eröffnet wurde (wohingegen diejenige gegen Preynat nach wie vor aussteht). Die Urteilsverkündung erfolgte im März: Barbarin wurde wegen Nichtanzeige von sexuellen Übergriffen an Kindern und Jugendlichen zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Sein Rücktrittsgesuch wurde von Papst Franziskus abgelehnt, was in Frankreich zu einer Welle von Kirchenaustritten führte.

Die Stärke des Films liegt darin, dass er nicht nur den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche, sondern auch das systematische Schweigen darüber thematisiert. Immer wieder sitzt man ungläubig vor der Leinwand, wenn die Beteiligten –
Betroffene, Angehörige, Mitwissende – trotz handfester Beweislage wegsehen, schweigen, verharmlosen, nicht reagieren. Vor diesem Hintergrund gebührt Ozon Lob und Respekt dafür, dass er das ganze Gewicht seines künstlerischen Rufs – immerhin gehört er zur ersten Riege des französischen Kinos – in die Waagschale wirft, um die Missbrauchsdebatte mit Wucht voranzutreiben. Wie wenig selbstverständlich das ist, zeigt der Umstand, dass Grâce à Dieu schwierig zu finanzieren war. Viele Geldgeber, die Ozons Projekte üblicherweise unterstützen, hielten sich diesmal auffällig zurück. Warum eigentlich? Weil sich der Film weit aus dem rechtlichen Fenster lehnt, wenn er Anklage gegen zwei Verdächtige erhebt, noch bevor ihre Schuld gerichtlich erwiesen ist? Oder, viel ernüchternder, weil mit dem Thema Missbrauch von Jungen durch Angehörige der katholischen Kirche an der Kinokasse kein Geld zu machen ist?

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Trotz seines Mutes hat Grâce à Dieu Schwächen. Ozons Hang zu geschmackvollen Bildern, der vielen seiner bisherigen Filme angemessen war, erweist sich hier als Nachteil. Denn es sind gerade nicht die Bilder, die die Handlung erzählen, sondern nahezu ausschliesslich die Dialoge der Figuren. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem im ersten und zweiten Kapitel viele Dialogpassagen, die die Brief- und E-Mail-Korrespondez der verschiedenen Beteiligten (Opfer, Täter, Kirchenvertreter_innen) wiedergeben, aus dem Off zu hören sind. In diesen Momenten wirkt Grâce à Dieu wie ein gepflegt illustrierter Briefroman – eine Wirkung, die dem Film nicht guttut und Ozons eigentliches Anliegen unterläuft.

Auch die emotionale Verfasstheit der Opfer bleibt lange Zeit eher vage. Was Alexandre und François fühlen, wie es ihnen mit dem erfahrenen Leid geht, bleibt oft unklar oder wird gelegentlich eher behauptet als filmisch umgesetzt. Das ist deshalb problematisch, weil es uns so nicht immer leichtfällt, mit ihnen mitzufühlen. Erst Emmanuel, den der Missbrauch am meisten aus der Bahn geworfen hat, drückt im dritten Teil seine seelischen und körperlichen Verletzungen greifbarer aus.

Die erzählerische Anlage hat ihre Vor- und Nachteile. Die Entscheidung, das Thema in drei nacheinander erzählten Kapiteln anzugehen, eröffnet ein breites Spektrum und bietet die Möglichkeit, dem schieren Ausmass der Übergriffe erzählerisch Herr zu werden. Die drei Protagonisten stehen stellvertretend für die insgesamt siebzig Opfer von Preynat. Zugleich liegt in dieser Aneinanderreihung etwas irritierend Additives und daher Vorhersehbares, das verhindert, dass die einzelnen Schicksale jene individuelle Tragweite entfalten können, die ihnen zustünde. So werden sie auf paradoxe Weise verharmlost, was von Ozon mit Sicherheit nicht beabsichtigt war.

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Das vielleicht grösste Problem von Grâce à Dieu sind die Rückblenden, in denen es um die Darstellung der eigentlichen Übergriffe an den Kindern geht. Hier beschränkt sich Ozon – vollkommen nachvollziehbar – auf reine Andeutungen, doch sind sie derart floskelhaft und leider auch klischiert geraten, dass er besser auf sie verzichtet hätte. (Dass es eine gewaltige Herausforderung ist, Bilder für den sexuellen Missbrauch an Kindern zu finden, liegt auf der Hand; dass es trotzdem möglich ist, hat vergangenes Jahr Jennifer Fox mit The Tale bewiesen.)

Dennoch: Diese Schwächen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ozon mit Grâce à Dieu einen wohltuend klaren und undramatischen Beitrag zu einer Debatte liefert, die noch immer viel zu sehr hinter vorgehaltener Hand geführt wird. Ozon verschafft den Opfern Gehör, und er tut es radikal parteiisch, mit allem nötigen Respekt und grosser Behutsamkeit. Der Titel seines Films bezieht sich übrigens auf die skandalöse Aussage, die Kardinal Barbarin im März 2016 vor laufender Kamera an einer Pressekonferenz gemacht hatte: «La majorité des faits, grâce à Dieu, sont prescrits.» – «Die Mehrheit der Fälle sind Gott sei Dank verjährt.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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