American Murder: The Family Next Door

Jenny Popplewell
Wann immer ein Filmtitel mit «American» beginnt, weiss man, dass etwas über den Zeitgeist gesagt werden soll: Der neue Netflix-True-Crime-Film American Murder atmet diesen Zeitgeist, auch, um sich von einer momentanen Welle an Genre-Produktionen abzusetzen.
Wann immer ein Filmtitel mit «American» beginnt, weiss man, dass etwas über den Zeitgeist gesagt werden soll: American Graffiti (Jugendkultur), American Gigolo (Wohlstand), American Gangster (Drogenhandel), American Pie (Sex), American Beauty (Familie), American Psycho (Geld). Meistens sind es Filme mit dem Anspruch, etwas Umfassendes in zerlegender Detailtreue, in brutal ehrlichen Bildern zu zeigen.
Der neue Netflix-True-Crime-Film American Murder atmet diesen Zeitgeist, vor allem, da der Dokfilm fast ausschliesslich aus Filmmaterial besteht, das von Beteiligten auf ihren Smartphones oder Bodycams, von Überwachungs- oder Fernsehkameras gedreht wurde. Der Kriminalfall, um den sich der Film dreht, spielte sich im Kleinstädtchen Frederick in Colorado ab: Die schwangere Frau und Mutter Shanann verschwindet, aber nicht, ohne Stunden um Stunden an Videomaterial auf ihrer Facebook-Seite zu hinterlassen. Dort dokumentierte sie das Familienleben mit ihren beiden jungen Töchtern und ihrem Ehemann Chris. Natürlich scheint es beinahe perfekt, aber dass dieser Eindruck trügt, darauf hat uns die (Film-)Geschichte schon zu Genüge konditioniert. Vor allem die True-Crime-Fans, bei denen sich Netflix mit Hits wie Making a Murderer beliebt machte, trauen dem Bild der Idylle nicht.

Der Film springt zeitlich hin und her, in den Facebook-Feed von Shanann hinein, wie sie vor 2018 via Vlog von ihren Träumen, Wünschen und Ängsten erzählte, Weihnachten oder den Besuch der Grossmutter filmte, dann dorthin, wo der Polizist mit umgeschnallter Kamera und Chris nach dessen verschwundener Frau sucht, immer wieder verschiedenen Fährten folgend: Gab es Streit? Oder ist Shanann – vielleicht eine Rabenmutter – das Familienleben schlicht verleidet? «Ich habe immer für eine andere Person gelebt. Bis vor kurzem. Jetzt lebe ich für mich, für meine Familie», hatte Shanann immerhin noch in einem ihrer virtuellen Tagebuchaufnahmen gesagt, bevor sie wie vom Erdboden verschluckt war. Deutete das ihre Abwendung an? Hatte sie jemanden vor den Kopf gestossen? Auch den lokalen Fernsehsendern, die bald schon mit Kamera und Reporter_innen auf dem gemähten Vorstadtrasen stehen, scheint jedes Narrativ recht.
Regisseurin Jenny Popplewell liefert zur Geschichte ein Minimum, damit man sich im Potpourri an Filmmaterialien zurechtfindet: Manchmal wird der Verwandtschaftsstatus einer Person im Bild ausbuchstabiert oder schriftlich eine Zeitangabe gemacht. Ansonsten wird sogar das Voiceover, das oft durch solche Filme führt, ausgespart: Die Zuschauer_innen müssen ihre eigenen Geschichten spinnen, selbst die Spuren lesen, die sich in den Materialien verstecken könnten, was gerade beim Social-Media-Content äusserst schwierig wird, ist er doch darauf angelegt, alles im Glanzlicht erscheinen zu lassen, was jenseits von Linse und Aufnahme-Button wahrscheinlich schon ganz anders aussieht. Auch das ist Zeitgeist. Um ein originalgetreueres Bild zu schaffen, greift Popplewell in American Murder auf Telefonaufnahmen, Messages der Verschwundenen, sowie Mitschnitte von Polizeiverhören und Gerichtsverhandlungen zurück. Sie entblössen eben diesen Gemeinplatz unserer Zeit: Dass nicht alles Gold ist was glänzt, ganz besonders im Digitalen.

Wer sich zum Schluss von American Murder noch fragt, was nun «American» daran sein solle, was den Film unter den True-Crime-Produktionen gegen den Strom schwimmen lässt, den weiss Popplewell mit einer Zahl, die Weiss auf Schwarz am Ende des Films geschrieben steht, zu schocken: In den USA geschehe im Schnitt pro Tag drei Frauen das, was mit Shannan passiert war. Stünde dies nicht am Schluss des Films, würde American Murder nicht viel von den anderen Filmen und Serien auf Streaming-Plattformen trennen, die sich mit dem doch nicht ganz aussergewöhnlichen Ereignis eines Mordes in den USA beschäftigen. Zwar ist das alleinige Zurückgreifen auf Quellmaterial ist nett und steht innerhalb der Dokumentarfilmgeschichte in einer stolzen Tradition. Es mag das heutige Publikum aber kaum erstaunen, sind wir doch von solchen Aufnahmen ohnehin konstant umgeben. Vielleicht ist die Abhebung vom Genre am Ende gar nicht die grösste Stärke dieses Films, sondern vielmehr die Einreihung. In American Murder schreibt sich etwas von der Tragödie fort, die die Vereinigten Staaten der jüngeren Geschichte zu leben scheinen, und zum Ende der achtzig Minuten wissen wir einmal mehr: 2020 wartet nicht mit allzu viel Aufmunterung auf.
Regie: Jenny Popplewell; Kamera: div.; Schnitt: Simon Barker; Musik: Nainita Desai; Produktion: Knickerbockerglory TV; USA 2020. Dauer: 82 Min. Streaming CH, D: Netflix.
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