Undine

Christian Petzold
Zwei Welten, die Sagenwelt von einst und die Welt der Yuppies in Berlin, laufen hier nebeneinander her, ohne sich ins Gehege zu kommen. Mit dem Vorwurf, dabei wieder lediglich eine Spielwiese für cinephile Insider zu liefern, wird in Undine spielerisch umgegangen.
Allen Protesten und politischen Initiativen zum Trotz sei es jahrzehntelang nicht gelungen, so doziert in Christian Petzolds Undine eine Frau vor interessierter Zuhörerschaft, den Berliner Wohnungsbau sozialer zu gestalten. Man meint zu wissen, worauf sie sich bezieht: Über kaum etwas wird in der deutschen Hauptstadt derzeit heftiger gestritten als über die rapide ansteigenden Kosten für Wohnraum. Im Film allerdings nimmt die Sache eine andere Wendung: Die unhaltbaren Zustände auf dem Berliner Wohnungsmarkt blieben während der gesamten wilhelminischen Epoche unverändert, so fährt die Frau fort, und erst 1918, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde alles anders.
Es geht Petzold, in dieser Szene und auch im gesamten Film, nicht oder jedenfalls nicht nur darum, an tagesaktuelle Schlagzeilen anzudocken, sondern um einen Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart und um die Perspektivenverschiebung, die damit einhergeht. Einen deutlichen Hinweis liefert bereits der Titel: Undine ist eine mythische Figur, die einer Sage des 14. Jahrhunderts entstammt, eine mysteriöse Wasserjungfrau, die den Männern, die sich in sie verlieben, über kurz oder lang den Tod bringt. Auch -Petzolds Undine sagt gleich zu Filmbeginn zu Johannes, ihrem Liebhaber: «Bitte gehe nicht, wenn du mich verlässt, muss ich dich töten.»
Das ist, wie man an ihrer Stimme erkennt, keine Drohung, sondern eine Prophezeiung. Allerdings spricht sie diese Worte nicht in einem schummrigen Zauberwald, sondern in einem Museumscafé, mitten im sich in atemberaubender Geschwindigkeit konsolidierenden Berlin der Gegenwart. Gleich muss sie weiter, sie ist freie Mitarbeiterin der Berliner Senatsverwaltung und hat viel zu tun.
Johannes lässt sich von der düsteren Prophezeiung nicht abschrecken und verschwindet – nur um, fast wie durch Magie, ein paar Filmminuten später durch einen anderen Mann ersetzt zu werden: Christoph, ein Industrietaucher, tritt in Undines Leben. Die erste Begegnung der beiden, in einem ansonsten menschenleeren Lokal, ist hinreissend: Liebe auf den ersten Blick, aber gleichzeitig ein unbeholfener Flirt, der sich in Slapstick-Missgeschicke fortsetzt, in deren Verlauf ein Aquarium in die Brüche geht. Nun liegen die beiden nebeneinander am Boden, patschnass, wortlos, glücklich. Sie sind in ihrem Element angekommen, der Sog des Wassers wird sie bis zum Filmende nicht mehr loslassen.
Paula Beer und Franz Rogowski hatten schon in Transit die Hauptrollen übernommen, dem Vorgängerfilm des Regisseurs, an den Undine auch in struktureller Hinsicht anschliesst. Hatte Petzold da einen Roman von Anna Seghers, eine Geschichte über Flucht und Exil zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, in die Sprache und Textur der Gegenwart übersetzt, stellt er nun eine mittelalterliche Sage ins Hier und Jetzt hinein.

Keineswegs allerdings geht es darum, den Undine-Mythos in einem konventionellen Sinn zu aktualisieren, ihn nach tagesaktuellen Massstäben neu zu bewerten oder ihn, anders herum, als Kommentar zur Lage der Nation im Jahr 2020 zu missbrauchen. Die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem wilden Denken der Mythologie und pragmatischem Alltagsrealismus, aber auch, zum Beispiel, zwischen Johann Sebastian Bach und den Bee Gees wird nicht dramaturgisch ausgebeutet.
Die beiden Ebenen des Films laufen nebeneinander her, ohne sich ins Gehege zu kommen, wie zwei Filter, die abwechselnd über dasselbe Bild gelegt werden. In einem Moment verschreibt sich Petzold am Grund des Baggersees ohne jede ironische Distanzierung der Motivik des Fantastischen, im nächsten scannt die Kamera ein architekturhistorisches Modell der Berliner Innenstadtbezirke.
Petzolds Filme seien, so ein geläufiger Vorwurf, bei aller inszenatorischer Brillanz Kopfgeburten, diskursgesättigte Spielwiesen für cinephile Insider, die einen unmittelbareren, affektiven Zugang verwehren. Auf den ersten Blick scheint Undine dieses Vorurteil voll und ganz zu bestätigen: Selbst jemand, der bereit ist, die dunkelromantische B-Movie-Fantasie von der verwunschenen Schönen, die die Männer in den feuchten Tod lockt, mit der Yuppie-Lebenswelt der neuen Mitte Berlins zusammenbringen, müsste doch spätestens dann die Segel streichen, wenn die Figuren sich zwischendrin immer wieder in minutenlangen Exkursen über Stadtsoziologie ergehen.
Manchmal spielt Petzold sehr direkt mit der Absurdität seiner Anordnung. Einmal meint Christoph, als Undine mit ihm schlafen will: «Nein, jetzt nicht, lese mir lieber noch einmal deinen Vortrag über das Berliner Stadtschloss vor.»

Petzold geht zweifellos ein Wagnis ein, wenn er gleichzeitig suspension of disbelieve und einen distanziert-analytischen Blick einfordert. Tatsächlich aber fühlt sich Undine keineswegs sperrig und verschwurbelt an, sondern im Gegenteil glasklar und federleicht. Das liegt einerseits an der ökonomischen Präzision dieses gerade einmal 87 Minuten langen, von wiederkehrenden Schauplätzen, Motiven und Einstellungsfolgen klug rhythmisierten Films.
Es liegt auch daran, dass es etwas gibt, was die vermeintlichen Gräben, die sich überall im Film auftun, mühelos überbrückt: die Liebesgeschichte zwischen Undine und Christoph, wie sie sich im Spiel der beiden phänomenalen Hauptdarsteller_innen realisiert. Schlüssiger noch als in Transit ergänzen sich Rogowskis sanfte, raunende Stimme und Beers unter der kühlen Oberfläche hervorscheinende Fragilität. Wir sehen zwei Körper, zwei Subjektivitäten, die sich zueinander hin öffnen und gleichzeitig vom Rest der Welt entfremden.
Sind sie zusammen, driften sie schwerelos durch Berlin, alleine zergehen sie vor Sehnsucht. Letztlich ist Petzold mit Haut und Haaren Romantiker: Liebe macht nicht blind, aber sie ermöglicht einen anderen Blick, und weil sie als ein unhintergehbar irrationaler Impuls ihr Objekt immer schon verformt und verkennt, kann sie zu einem Tor in eine andere Welt werden.
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