Tiger King: Murder, Mayham and Madness

Rebecca Chaiklin / Eric Goode
Vokuhilas, Tiger und die absurden Abgründe des us-amerikanischen Südens: Eine neue True-Crime-Serie auf Netflix sprengt die Grenzen des Genres.
«Dicht» mag einem die True-Crime-Dokserie Tiger King erscheinen, die seit dem 20. März auf Netflix zu sehen ist. Derart dicht, dass sie fast wie eine Parodie des Genres wirkt.
Dabei ist es nicht einfach, zu erklären, wovon die Miniserie mit sieben Episoden genau handelt, aber folgende Konstellation liegt ihr zugrunde: Da wäre erst einmal Joe Exotic, ein bizarrer Zoobesitzer mit exorbitanten Ambitionen und geradezu unverschämter Vokuhila-Frisur. Der hat sich in Oklahoma einen privaten Zoo gebaut und züchtet auf seinem Grund Tiger und Löwen, deren Jungen er sorglos in die Runde reicht.

Das Kuscheln der Jungtiere ist die Attraktion seines Zoos, das lockt zahlreiche Besucher_innen an. Die wollen aber auch Joe Exotic selbst sehen, eine schillernde Persönlichkeit, die es zumindest in der Nachbarschaft und im Zirkel der Grosskatzenzüchter_innen dank seiner extravaganten Art zur Berühmtheit gebracht hat. Private Raubtierliebhaber_innen wie ihn gibt es übrigens – das mag erstaunen – in den USA nicht wenige.
Exotic möchte ihr König sein und ist von sich selbst masslos überzeugt, was schamlos und fast charmant ist. Einmal startet er sogar den Versuch, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, was vor einigen Jahren noch lustig gewesen wäre – spätestens seit Trumps Wahl bleibt einem hier aber das Lachen im Hals stecken.

Es gibt noch mehr wie ihn: Etwa Bhagavan «Doc» Antle, ein grössenwahnsinniges asshole aus South Carolina mit blondem Pferdeschwanz. Während Tigerzüchten und der Missbrauch von Arbeitskräften im Universum von Tiger King stets Hand in Hand zu gehen scheinen, hat der Doc eine besonders sadistische Masche entwickelt: Er lässt die Frauen aus seinen polygamen Ehen gratis für ihn arbeiten, zusammen mit anderen Gutaussehenden, die 100 US-Dollar pro Woche und einen Schlafplatz zwischen Kakerlaken akzeptieren, um den mystischen Grosskatzen näher zu sein.
Polygam sind übrigens beinahe alle, das scheint in der Welt der Grosskatzenhalter_innen so sehr dazuzugehören wie schlechte Tattoos und eine mutig arrangierte Haarpracht. Auch der schwule Exotic heiratet über die Zeit hinweg, die in Tiger King nachgezeichnet wird, nicht weniger als drei junge Männer (Betonung auf «jung»), wobei zumindest der surfer dude aus Südkalifornien ursprünglich nur bei ihm gelandet war, weil er einmal im Leben einen Tiger streicheln wollte. Dass er mit Ehering und einem Vorrat an Marihuana (und wahrscheinlich Crystal Meth) in Oklahoma hängenbleiben wird, hatte er selbst nicht kommen sehen.

Ohnehin landen die Nebenfiguren in Tiger King eher unfreiwillig im Abwärtsstrudel, den Exotic, Antle und ihresgleichen dank ihrer wahnsinnigen Egos um sich herum produzieren. «Just because I stopped by a zoo to feed a bear one day», meint einer der Tierpfleger einmal kopfschüttelnd als Antwort auf seine eigene Frage, wie er in dieses Schlamassel geraten konnte. Nun muss er für einen Gerichtstermin seine Latzhose mit einem Anzug tauschen.
Die eigentliche Erzfeindin von Joe Exotic ist aber Carole Baskin, eine millionenschwere Tierschützerin mit grossem Park, für den sie gezüchtete Tiger und andere Raubtiere einsammelt. Deren stinkreicher Mann ist übrigens vor Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht; die Gerüchteküche in der Welt der privaten Zoowärter_innen kocht seither. Mit Exotic und den anderen Züchtern gerät sie aneinander, weil sie als guruhafte Tierschützerin ihre Gefolgschaft via Social Media auf die anderen hetzt.

Dass in dieser Konstellation nicht alles legal verläuft, es Mordlust, Drogenkonsum und Tierquälerei gibt, erübrigt sich nach dem Aufzählen des illustren Cast. Tiger King ist derart vollgepackt mit Wendungen und Drehungen, dass es an eine Überreizung grenzt, aber gerade für Fans des Genres auch eine besondere Lust ist. Die ersten Episoden widmen sich einem immer neuen Themenkreis, den Lieb- und Feindschaften etwa und Tierschützern versus Züchtern; nach und nach ergibt sich das Gesamtbild der skurrilen Machenschaften.
Stilistisch folgt die Miniserie dem gängigen True-Crime-Muster, das sich auf Netflix seit Making a Murderer (2015) bewährt hat. Aber die erzählten Geschichten sind derart bizarr, dass jedes ästhetische oder narrative Experiment hier ohnehin fehl am Platz gewesen wäre. Nur so kann man eine Serie beschreiben, in der sich ein ehemaliger Verkaufsleiter einer Walmart-Waffenabteilung und Kampagnenchef von Joe Exotic zum Zuschauer_innensurrogat und zur Stimme der Vernunft mausert.

Für Produzenten von True Crime wird Tiger King also ein tough act to follow – zu viele unerwartete Twists liefert die Serie, ihr Personal ist zu kurios, die ganzen Verbandelungen erscheinen da im Süden der Staaten beinah zu gut, um wahr zu sein.
Das Line-up kommender Serien und Filme auf Netflix verspricht aber immerhin, dass True Crime trotz dieses Überfliegers ein Steckenpferd bleiben soll: Mitte April startet etwa Innocence Project, eine Miniserie über die Gruppierung, die sich für die Freilassung zu Unrecht Verurteilter einsetzt. Thematisch passend erscheint dann Ende des Monats ein Film über Cyntoia Brown, die im Gefängnis landete, weil ihr vorgeworfen wird, einen Mann umgebracht zu haben. Viele Menschenrechtler halten ihre mutmassliche Tat für Notwehr. Und noch dieses Jahr soll eine Miniserie zur Jeffrey-Epstein-Äffäre anlaufen.
True-Crime-Fans freuen sich aufs neue Angebot. Aber über Rednecks, Vokuhilas und semiautomatische Waffen, über Tigerzüchter_innen und ihr seltsames Verhältnis zu Leben und Tod ist – zumindest für den Moment – mit Tiger King alles gesagt.
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