El hoyo

Galder Gaztelu-Urrutia
Im «Schacht» gilt das einfache Prinzip: fressen oder gefressen werden. Wer sich in Zeiten der sozialen Isolation an diese
Extremform der Gefangenschaft heranzutasten wagt, wird mit gelungenem Science-Fiction-Horror belohnt.
Natürlich ist es seltsam, jetzt, in Corona-Zeiten, aus der sozialen Isolation in die absolute Klaustrophobie zu blicken: In Galder Gaztelu-Urrutias El hoyo (im internationalen Release The Platform, im deutschsprachigen Der Schacht), der nach seiner Premiere am Toronto International Film Festival vergangenen Jahres nun, diesen März, auf Netflix angelaufen ist, geht es um das Gefangensein in einem grossen Betonkonstrukt, das einem Schacht gleicht, aber auch um soziale Hierarchien, die dadurch konstruiert werden: Scheisse fliesst immer von oben nach unten, lehrt uns der Film über seine anderthalb Stunden hinweg unentwegt.

Die spanische Produktion startet mit etwas, was wie die Küche eines Spitzenrestaurants aussieht; der Jamón wird sorgfältig zugeschnitten, die Küchlein mit Fingerspitzengefühl drapiert. Nach nur wenigen Sekunden dieses Intros befinden wir uns mit zwei unbekannten Charakteren an einem tristen Ort, «Level 48», wie der Ältere (Zorion Eguileor) meint. «Was ist oben?», fragt der Protagonist Goreng (Iván Massagué). «Level 47, natürlich» lautet die Antwort, und für eine Weile hantiert man in El hoyo mit dieser Art geringer Wissensstände, bis man allmählich das Konzept erfasst: Im Schacht gibt es rund 300 Etagen wie diese, auf jeder sind zwei Personen, manchmal wachen sie auf einer anderen, willkürlich gewählten Ebene auf. Es ist ein soziales Experiment, durch das die Zuschauer_innen Goreng in verschiedensten personellen Konstellationen und auf unterschiedlichen Stockwerken verfolgen. Wie gut es ihm dabei geht – wie viel vom Spitzenrestaurant-Essen er von oben durchgereicht erhält –, hängt jeweils davon ab, wie weit oben er ist. Das ist ja eigentlich auch im echten Leben so, in El hoyo eben im wahrsten Sinne des Wortes.

Es ist also allegorisch gemeint: Der Film insistiert, dass es in ihm um Essen geht, der Schacht ist selbst ein Höllenschlund, in den die Figuren hereinwandern. Dabei geht es um Schichten, um Fragen der Solidarität und egoistische Interessen: fressen oder gefressen werden. In dieser Konstellation benehmen sich dann gewisse nur allzu «menschlich». Natürlich fressen sie sich voll, wenn sie vor einem prächtigen Buffet stehen – was mit denen unter ihnen geschieht, ist ihnen für den Moment zumindest egal, denn da unten waren sie auch schon; endlich sind sie oben. Einer solchen Dynamik kann sich dann auch der intellektuelle Gutmensch nur solange entziehen, bis er selbst einmal von der falschen Seite in das Ding geblickt hat, das zeigt die Reise des Protagonisten allzu eindrücklich. Dabei arbeitet sich der Film besonders an der Idee ab, es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen zu können; die entblösst er als Illusion. In El hoyo geschieht die Verteilung nämlich zufällig, jede_r zieht sein Los in der Lotterie, nichts ist mehr übrig vom protestantischen Prosperity-Gedanken. Aber das macht die oberen Schichten auch nicht solidarischer.

Natürlich, wenn das Umfeld aus dicken Betonwänden besteht, muss der Film von seiner schauspielerischen Leistung leben, von Musik und Kameraeinstellungen, die aus der simplen Mise en Scène das Allerbeste holen. Das gelingt in El hoyo alles; Gaztelu-
Urrutias Film ist ansprechend, die Darbietungen mitreissend. Und insgesamt so fesselnd aufgemacht, dass es echt Nerven kostet, besonders in den unteren Geschossen, wo dann eben Maden und Unschöneres gegessen werden müssen, um es irgendwann lebendig die Leiter wieder höher hinauf zu schaffen. Dabei überrascht die Darstellung des barcelonischen Schauspielers Massagué besonders, der sich bis anhin vor allem dem spanischen Publikum in komödiantischen Produktionen bekannt gemacht hatte. Hier demonstriert er eindrücklich die Seelenqualen.

Der Schacht ist ein sehr gut bebildertes Konzept, die Allegorie geht auf, ohne sich im Verlauf des Filmes zu verwässern. Nicht immer gelingen solche Filme, die auf diese Weise high concept sind. Das Beste an El hoyo ist aber, dass er auch als Science-Fiction-Horror funktioniert und die Spannung trotz Dialoglastigkeit und minimalistischen Sets aufrechterhalten wird. Wer also die Nerven aufbringt, während oder unmittelbar nach Zeiten der erzwungenen Isolation und Distanz direkt in den Schlund zu blicken: Bitte.
Der Film ist seit März auf Netflix verfügbar.
Regie: Galder Gaztelu-Urrutia; Vorlage/Buch: David Desola; Musik: Aránzazu Calleja; Kamera: Jon D. Domínguez; Schnitt: Elena Ruiz, Haritz Zubillaga; Darsteller_in (Rolle): Ivan Massagué (Goreng), Zorion Eguileor (Trimagasi), Antonia San Juan (Imoguiri), Alexandra Masangkay (Miharu); Dauer: 94 Min. Streaming CH/D: Netflix.
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