The Roads Not Taken

Sally Potter
Wohin wandert der Geist eines dementen Menschen? Die Britin Sally Potter gibt eine poetisch-hoffnungsvolle Antwort, in der sich auch ein Stück ihrer eigenen Geschichte spiegelt.
Filme über Demenzkranke tendieren in der Regel zum Kitsch. Till Schweigers Honig im Kopf oder auch Nebelgrind der Schweizerin Barbara Kulcsar zum Beispiel brauchen das Versöhnliche im Tieftraurigen. Wie soll man auch sonst über diesen hoffnungsfressenden Teufel, der die glühendsten Persönlichkeiten vor unseren Augen zersetzt, einen Film machen, den sich irgendwer ansehen will? Einen Funken Hoffnung, den wir aus den ins Blanke blickenden Augen unserer Liebsten lesen wollen, muss es doch geben.
Das hat sich auch die Regisseurin Sally Potter gedacht, nachdem sie ihren Bruder durch Jahre seiner Early-onset-Demenz begleitet hatte. Denn Leo, gespielt von Javier Bardem, ist nicht einfach verloren in seinem Kopf. Er lebt vielmehr neben dem Schatten, zu dem sein echtes verkommen ist, zwei parallele Leben, deren Pfade er nicht eingeschlagen hat – The Roads Not Taken.
Leo lebt in einer kleinen Wohnung in Brooklyn, gleich neben den Bahngleisen. Es ist keine sehr gute Wohnlage, doch Leo stört das nicht. Er liegt in seinem Bett, öffnet der Haushaltshilfe die Tür nicht und jagt seiner Tochter Molly (Elle Fanning) einen Schrecken ein, weil er auch nicht ans Telefon geht. Leo, so scheint es, ist schon weit entfernt von der Welt in seinem dementen Zustand, der nie konkret benannt wird.
Als sie endlich bei ihm ankommt, erkennt er seine Tochter nicht einmal mehr. Dabei hat sie viel mit ihm vor an diesem Tag, der den Rahmen für die erzählte Zeit im Film gibt. Erst geht es zum Zahn-, dann zum Augenarzt. Was für andere ein paar Stunden in Anspruch nimmt, wird mit Leo zur Tagesaufgabe.

Während Molly versucht, ihren widerspenstigen Vater aus dem Haus zu bewegen oder ins Taxi zu bugsieren, fallen wir immer wieder in seinen Kopf und aus der Gegenwart. Dort gehen Welten auf: Da ist die Version, in der Leo mit seiner Jugendliebe Dolores (Selma Hayek) zusammenlebt. Es ist der día de los muertos und die beiden trauern um ihren Sohn, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Im anderen Parallelleben in Leos Fantasie lebt er zurückgezogen auf einer griechischen Insel, im Versuch vertieft, seinen Roman zu beenden, für den er zwanzig Jahre zuvor Frau und Tochter verliess.
Immer wieder schieben sich diese alternativen Lebensentwürfe vor Leos Realität in New York, durch die ihn seine Tochter hievt, sich selber und ihre Karriere aufopfernd. Molly will nicht wahrhaben, dass ihr Vater nicht mehr da ist, dass diese Krankheit ihn unwiederbringlich aufgefressen hat. Sie tut so, als wäre er noch ganz sich selbst, und schimpft empört auf die Ärzte, die das offensichtliche Gegenteil beobachten.
Leo hangelt sich derweil durch seine inneren Parallelwelten, in denen er ebenso leidet wie in der echten, nur aus verschobenen Gründen: Beide werfen Leo auf sein Vaterdasein und den Verlust eines Kindes zurück. Sie sind sein Reflexionsraum für die noch viel traurigere Realität, in der seine Tochter zwar ständig da ist und ihn beschwichtigt, doch für ihn unfassbar bleibt.
Und während Leo sich selbst in seinen Geschichten abhandenkommt, verliert ihn Molly physisch. Einmal im Supermarkt, als sie am Telefon mit ihrem Chef einen grossen Auftrag davonschwimmen sieht, das andere Mal mitten in der Nacht. Während die roads not taken Sackgassen sind, sind die Wege, die er an diesem Tag in der Realität nehmen muss, für ihn ein Labyrinth.

Das alles könnte, wie gesagt, sehr kitschig sein. Doch Potters geübte Handschrift der feinen menschlichen Interaktionen und wohl auch ihre eigene Erfahrung mit der Krankheit hinterlassen einen ausgewogenen Film mit einem komplexen Schnitt, den die Regisseurin zusammen mit Emilie Orsini und Jason Rayon gekonnt meisterte. In der Parallelmontage springt der Film andauernd zwischen Leos Welten hin und her. Gesten, Töne, Hände, die ihn halten, korrespondieren dabei über die Schnitte hinweg und bilden die visuelle Brücke von der einen in die andere Welt.
Charakterkopf Bardem trägt die Geschichte der verdreifachten Hauptfigur. Auch die Herausforderung, einen Demenzkranken zu spielen, bewältigt er mit Bravour und der nötigen Subtilität, von den Verzweiflungsanfällen bis zu den leicht gekrümmten Fingern, die so charakteristisch für neurologische Störungen sind. Dieser Leo gibt uns die Hoffnung, dass im Kopf demenzkranker Menschen ein ganzes Universum blüht. Und das ist allemal besser als die Leere, die aus ihren Blicken spricht.
Kinostart Deutschschweiz: 30. Juli 2020
Regie/Buch: Sally Potter; Kamera: Robbie Ryan; Schnitt: Sally Potter, Emilie Orsini, Jason Rayon; Darsteller_in (Rolle): Javier Bardem (Leo), Elle Fanning (Molly), Selma Hayek (Dolores), Laura Linney (Rita). Produktion: BBC, BFI, Ingenious Media u.a.; GB 2020. Dauer: 85 Min. Verleih CH: Filmcoopi.
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