Paul Nizon – Der Nagel im Kopf

Christoph Kühn
Ein Buch wird verfilmt, bevor es geschrieben ist: Christoph Kühn porträtiert Paul Nizon zu seinem neunzigsten Geburtstag seiner Wahlheimat Paris.
Paul Nizons Thema ist er selbst. Seit fast sechzig Jahren schreibt der Schweizer über sich, und doch ist er kein autobiografischer Schriftsteller, der nur sein Leben aufschreibt. Denn ein Leben, das vor seinen Büchern oder sonst wie unabhängig von ihnen stattfindet, kennt er gar nicht. Die Verschränkung von Leben und Werk geht bei ihm so weit, dass Erfahrung für ihn überhaupt nur da entsteht, wo Literatur ist: «Das Leben wird erst im sprachlichen Ausdruck reich, tief, gewaltig», sagt der gebürtige Berner mit Jahrgang 1929, und schon in «Canto», seinem ersten Roman von 1963, hiess es: «Dieser Schreibfanatismus ist mein Krückstock, ohne den ich glatt vertaumeln würde.»

Um zu leben, musste er schreiben, und damit er schreiben konnte, musste Paul Nizon alles hinter sich lassen: den Beruf bei der «Neuen Zürcher Zeitung», die Familie mitsamt den Kindern und die Heimat sowieso. Erst am Ende der Siebzigerjahre, als er nach Paris ausgewandert war und nichts mehr hatte ausser einer Wohnung und sich selbst, konnte er arbeiten.
Wenn sich aber einer jahrzehntelang mit sich selbst und damit beschäftigt, aus seinem Lebensstoff Romane zu schreiben, was gibt es dann noch über ihn zu sagen, das nicht längst in einem seiner Bücher stünde?
Wer sich von Christoph Kühns Kinoporträt des Schriftstellers einen informativen Dokumentarfilm erhofft, wird enttäuscht sein. Denn da ist in den gut achtzig Minuten Spielzeit nicht das Geringste zu erfahren, zumindest dann nicht, wenn der eine oder andere Text schon bekannt ist. Aber darum ist es Regisseur Kühn in seinem Film auch nicht gegangen. Vielmehr hat er ihn so gestaltet, als handle es sich um die Verfilmung eines von Nizons Texten, und zwar eines ganz bestimmten: «Der Nagel im Kopf» ist der Name seines letzten, bislang unvollendet gebliebenen Manuskripts, der Film reiht sich in das bisherige Lebenswerk ein, indem er anstelle des Buchs erscheint.

Worum es in dieser Pseudobuchverfilmung geht, ist schnell erzählt: Regisseur Kühn trifft den Schriftsteller in Paris, geht mit ihm spazieren und lässt sich von ihm zum Essen einladen (es gibt Hähnchen, Nizon kocht selbst), um mit ihm auf neunzig Lebens- und fast ebenso viele Arbeitsjahre zurückzublicken. Wie in Nizons Romanen vermischen sich auch im Film dokumentarische und fiktionale Passagen. So sehen wir immer wieder Innenaufnahmen eines Arbeitszimmers, das sich als Nachbau von Nizons erster Pariser Wohnung in der Rue Simart 20 herausstellt. Ausserdem hat die eine oder andere literarische Figur ihren Auftritt. Wir haben es hier also mit einem Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm zu tun, der Schriftsteller ist der Porträtierte und spielt gleichzeitig die einzige Hauptrolle. Andere Stimmen kommen im Film konsequenterweise nicht zu Wort, in den Büchern ist das jeweils ebenso.
Episodenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden hier Themen angeschnitten und Anekdoten erzählt. Mal gerät der Film ins Schwelgen, um dann wieder etwas Fahrt aufzunehmen. Dazu liefert Kameramann Stéphane Kuthy Parisaufnahmen, die verständlich machen, warum der Schweizer die französische Hauptstadt für das grösste Kunstwerk der Menschheit hält.
Erst gegen Ende, als Nizon mit einer seiner Figuren zu interagieren beginnt, treibt es Kühn mit seiner experimentellen Form etwas allzu weit. Ansonsten beweist der Film ein sehr gutes Gespür für die literarische Welt von Paul Nizon, ohne dass im Übrigen viel über Literatur gefachsimpelt würde. Paul Nizon – Der Nagel im Kopf ist ein sehenswertes Künstlerporträt. Und mehr hat ja niemand versprochen.
Regie, Buch: Christoph Kühn; Kamera: Stéphane Kuthy; Schnitt: Mehdi Sahebi; Sound Design: Jacques Kieffer; Musik: Peter Scherer; Produktion: Andres Pfaeffli, Elda Guidinetti, Silvana Bezzola Rigolini, ventura film sa, RSI, SRG SSR, Schweiz 2020. 90 Min. Verleih CH: Filmcoopi.
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