Small Axe

Steve McQueen
Der Oscarpreisträger Steve McQueen legt eine brillante Filmreihe über das Leben Schwarzer Brit*innen von den Sechzigerjahren bis in die Thatcher-Ära vor. Die fünf voneinander unabhängigen Filme erzählen vor allem vom Kampf der Community gegen Rassismus und Marginalisierung.
Es sind die kleinen Details, die in Erinnerung bleiben. Ein Nudelsieb, das während der Polizeirazzia zu Boden gefallen ist, braucht eine Ewigkeit, um sich in Ruhe zu pendeln, lange nachdem alle aus dem Raum gestürmt sind. Die Finger eines rassistischen Cops im Zeugenstand kratzen mit fanatischer Besessenheit ein Loch in das Holzgeländer, an dem er sich festkrallt. Ein Schwarzer Junge, den man in eine Zwangsjacke gesteckt hat, liegt starr auf dem Boden einer Turnhalle, während die Kamera auf ihn zu und wieder von ihm weg fährt.
Steve McQueens Filmreihe Small Axe zelebriert die Kunst der Verdichtung – von Polizeigewalt im Eigenleben eines Küchenutensils, von rassistischem Hass in einer Fingerkuppe und dem Trauma physischer Unterdrückung in einer quälend langsamen Kamerafahrt. Doch diese einzelnen Fragmente, Nahaufnahmen und Verlangsamungen leisten dem Fluss der Bilder und der Handlung auch Widerstand – ebenso wie die Schwarzen Figuren im Angesicht von gesellschaftlicher Marginalisierung und Weisser Polizeigewalt.
Small Axe ist in erster Linie genau das: eine Chronik des Widerstands Schwarzer Brit*innen. Die fünf voneinander unabhängigen Filme mit einer Gesamtlaufzeit von knapp sieben Stunden erzählen von den Einwander*innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Karibik nach Grossbritannien kamen, und ihren Nachkommen; von Schwarzen Biographien in der britischen Diaspora zwischen 1968 und den Achtzigerjahren, und vor allem von den politischen Kämpfen der Community. In dem Song von Bob Marley, dem der Titel entnommen ist, ist es die «kleine Axt», die den «grossen Baum» zu Fall bringt.

Auch die Eltern des 1969 in London geborenen McQueen stammen von den Westindischen Inseln. Heute gehört der Filmemacher und Videokünstler, der für sein Sklavendrama 12 Years a Slave (2013) mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, zu den wichtigsten britischen Gegenwartskünstler*innen. Die ersten beiden Folgen, der fast zweistündige Pilotfilm Mangrove und Lovers Rock, sollten letztes Jahr am Corona-bedingt abgesagten Festival von Cannes laufen. Nun ist die Filmserie auf Amazon Prime zu sehen, doch ursprünglich entstand sie für die öffentlich-rechtliche BBC, da McQueen wollte, dass auch Leute wie seine Mutter sie sehen können, zuhause, im Fernsehen. Small Axe ist ein Werk über und für eine ganz bestimmte Community, deren Geschichten und Erinnerungen es aufbewahrt.
In McQueens Filmographie markiert diese sehr persönliche Anthologie auch eine Veränderung in seinem Bezug auf den menschlichen Körper und damit auf den zentralen Gegenstand seiner filmischen Arbeit. In Hunger (2008) und Shame (2011) machte er den nackten Körper von Michael Fassbinder (in der Rolle des IRA-Aktivisten Bobby Sands resp. eines sexsüchtigen Geschäftsmannes) zum Schauplatz politischen Widerstandes und sexueller Einsamkeit.
Der Körper war einsam und isoliert und widerstand gerade durch seine Isolation, ob nun beim Hungerstreik in der Gefängniszelle oder beim Geschlechtsakt im Bett, einer Umwelt, die ihn brechen oder sich mit ihm (sexuell, emotional) dauerhaft verbinden wollte. In 12 Years a Slave macht der erst freie und dann für zwölf Jahre versklavte Afroamerikaner Solomon Northup am eigenen Körper eine kollektive Erfahrung: Er erfährt, was es heisst, ein Sklave zu sein.
Vollendete Verschiebung
Diese Verschiebung vom Einzelnen hin zur Gruppe scheint sich in Small Axe zu vollenden. Der einzelne, vereinsamte Körper ist zwar weiterhin präsent, vor allem in der vierten Episode, benannt nach dem DJ und späteren Schriftsteller Alex Wheatle (Sheyi Cole). Anfangs sieht man Wheatles nackten Körper vor einer weissen Wand, ästhetisch wie sozial isoliert. Als Waise wird er zum Opfer von Misshandlungen durch Pflegemütter und Lehrer*innen; unter den karibischen Brit*innen bleibt er, der das repressive Weisse Erziehungssystem durchlaufen hat, zunächst ein Sonderling und Aussenseiter.

Im Zuge der Brixton Riots von 1981, einer von vielen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen Demonstrant*innen und der Polizei in der Thatcher-Ära, landet er schliesslich im Gefängnis, in einer Zelle mit einem an Durchfall leidenden Rastafari im Hungerstreik – man denkt an Bobby Sands, der in Hunger die Wände seiner Zelle als Protest mit Fäkalien beschmiert. Doch der Rastamann macht Wheatle mit seiner Geschichte als Schwarzer Mann vertraut, befreit ihn aus seiner Isolation.
Am Anfang der ersten Episode, Mangrove, ist es die Mise en Scène, die die Verbindung zwischen den diasporischen Körpern herstellt und die Hauptfigur, Frank Crichlow (Shaun Parkes), erst aus dem Kreis der Anderen hervorgehen lässt: Die Kamera schwenkt über eine Runde von Kartenspielern in einer verrauchten Kellerbar, unter denen sich auch Crichlow befindet. 1968 eröffnet der in Trinidad geborene Wirt in Notting Hill ein Restaurant.
Das «Mangrove» wird schnell zum Treffpunkt für die westindische Community und die örtliche Black-Panther-Gruppe um die Aktivistin Altheia Jones-LeCointe (Letitia Wright). Es wird aber auch zum Hassobjekt eines rassistischen Cops, der Razzien abhält, die Einrichtung zertrümmert, Besitzer und Gäste verprügelt. Nach einer Demonstration gegen Polizeigewalt werden Crichlow und acht weitere Aktivistin*innen als Aufrührer*innen gegen die Staatsgewalt vor Gericht gestellt. Bei der Verhandlung erklärt der Bürgerrechtler Darcus Howe (Malachi Kirby), wie Crichlow eine historische Figur, dass das Mangrove nicht einfach Crichlow, sondern der ganzen Community gehöre.
Ein ähnliches Argument bemüht später die Frau von Leroy Logan (John Boyega), der in der vierten Episode Red, White and Blue in die Polizei eintritt, um das System von innen heraus zu verändern. Als Logan, konfrontiert mit institutionellem Rassismus, doch aufgeben will, erklärt sie ihm, dass er die Mühen nicht für sich selbst auf sich nehme, sondern für all die Anderen, die willkürlich verprügelt, festgenommen und eingesperrt werden.

Die Mitglieder der britisch-karibischen Community sind verbunden durch ähnliche Diskriminierungserfahrungen, aber ebenso durch Musik, Tanz und Geschichte. Der zweite Film, Lovers Rock, zeigt eine Hausparty in einem Vorort von London; in einer wunderschönen Szene bewegen sich die Schwarzen Brit*innen eng umschlungen zu Janet Kays «Silly Games» auf der Tanzfläche, knüpfen zwischen den Körpern ein intimes, unsichtbares Band. Die Serie wird ausserdem durchzogen von Verweisen auf historische Figuren des antikolonialen Widerstands in der Karibik, wie Paul Bogle auf Jamaika oder Toussaint Louverture auf Haiti. In der letzten Episode, Education, träumt ein vom englischen Schulsystem ausgegrenzter Schüler davon, Astronaut zu werden; Schwarze Bildungsaktivist*innen bringen ihm stattdessen die Geschichte des präkolonialen Afrika nahe.
Die Heimat outer space
So findet er, der erst nicht lesen kann, über die Erzählungen zum Reich von Kusch und zur Königin Amina im wahrsten Sinne des Wortes zu seiner Stimme, während sich auf der Bildebene die Weiten des Weltalls aufspannen. Die berührende Sequenz zelebriert die Wiederanbindung der in der Diaspora verteilten Schwarzen Menschen an eine mythische Heimat outer space, wie im afrofuturistischen Universum des Funk-Musikers George Clinton.
Wie in der Serie überhaupt verbindet McQueen auch hier grosse Intensität mit einem nüchternen, leisen, undramatischen Tonfall. So zelebriert er den Triumph einer ästhetischen Form, die, in den Worten von Howe, der «Etablierung von konkreten Fakten» verpflichtet ist, und Emotionen zu brillanten, widerständigen Details verdichtet.
START 15.11.2020 REGIE Steve McQueen BUCH Steve McQueen, Alastair Siddons, Courttia Newland KAMERA Shabier Kirchner SCHNITT Chris Dickens, Steve McQueen MUSIK Mica Levi DARSTELLER*INNEN (ROLLE) Shaun Parkes (Frank Crichlow), Letitia Wright (Altheia Jones-LeCointe), Malachi Kirby (Darcus Howe) PRODUKTION Turbine Studios, EMU Films, BBC, Amazon Studios GB 2020 STREAMING Amazon Prime
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