Sin señas particulares

Fernanda Valadez
Mit dem Spielfilm Sin señas particulares ist der mexikanischen Regisseurin Fernanda Valadez ein bildstarkes wie emotional anspruchsvolles Debüt gelungen. Valadez macht darin Unaussprechliches sichtbar und lässt die Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen.
«Ich gehe mit Rigo. Sein Onkel wird uns einen Job in Arizona besorgen». Das sind die ersten Worte, die in Sin señas particulares geäussert werden – und zugleich die letzten, die man Jesús (Juan Jesús Varela), sagen hört. Denn anschliessend übernimmt seine Mutter, Magdalena (Mercedes Hernández), das Erzählen. Die beiden Jungen Rigo und Jesús verschwinden, als sie den Bus zur mexikanisch-amerikanischen Grenze nehmen, wie schon viele andere vor ihnen. Magdalena begibt sich fortan auf eine Odyssee, ihren Sohn wiederzufinden.

Die Handlung des mexikanischen Films wäre rasch erzählt. Sin señas particulares beginnt denn auch sehr nüchtern: Magdalena wird bei den Behörden, der DNA-Probe und dem Identifizieren von gefundenen Kleidungsstücken gezeigt. Dabei wird dem Publikum nichts erspart: auf der Polizeistation etwa schaut man Magdalena und anderen Müttern dabei zu, wie sie die Verschwundenen anhand von Fotos entstellter Leichen zu identifizieren versuchen. Dieser forensische Blick auf die heillos überforderte Bürokratie kommt nicht von ungefähr: Dem Skript liegt eine gründliche Nachforschung zugrunde, während der Regisseurin und Drehbuchautorin Fernanda Valadez Organisationen und Aktivist*innen ausfindig machte, die Angehörige von verschwundenen Personen in Mexiko unterstützen.
Doch Sin señas particulares ist mitnichten ein Dokumentarfilm. Valadez bringt fantastische Elemente mit ein, die einen als Zuschauer*in bald diese, bald jene Begebenheit bezweifeln lassen. Da ist zum Beispiel die Rede vom Teufel, der die Fahrgäste getötet haben soll und auch bildlich als gehörnte Figur in Erscheinung tritt. Immer auffälliger werden auch die strukturellen Parallelen zu epischen Erzählungen: Magdalena als Protagonistin, die mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert wird, stösst immer wieder auf Schlüsselfiguren, die ihr auf ihrem beschwerlichen Weg weiterhelfen. So verflechtet sich Magdalenas Suche nach ihrem Sohn mit der Miguels. Der Rückkehrer aus den USA sucht nach seiner Mutter und ihr ähnliche Schicksale lässt die beiden für einige Zeit Weggefährten sein.

Die Kamera lässt einen dabei oft nur Ausschnitte erhaschen. Man blickt mit Magdalena durch einen Türspalt und erspäht die Hand einer mysteriösen Informantin oder schaut über die verschwommene Schulter einer weiteren. Diese Strategie erlaubt es Valadez, ihr Publikum nicht bloss mit Magdalena mitfühlen, sondern ihre Agonie regelrecht miterleben zu lassen. Dass dabei nicht viel gesprochen wird – man weiss schliesslich nie, wer zuhören könnte –, unterstreicht nicht nur das paranoide Gefühl der konstanten Unsicherheit und Gefahr, sondern hebt die gezeigten Bilder zusätzlich hervor.
Insofern weiss Valadez das Medium Film geschickt für ihre Erzählung der Geschichte von Magdalena und Jesús zu nutzen. Mit der weitgehend episodenhaften Handlung und dem Auftauchen und Verschwinden von Figuren legt die Regisseurin die Grundspannung zwischen die zwei Pole des Films: Magdalenas und Jesús’ Einzelschicksal einerseits und die breitere gesellschaftliche Relevanz des Themas andererseits. Die Frustration, die man dabei als Zuschauer*in erlebt, trägt wesentlich zum Nachempfinden des Gezeigten bei und ist eine Auszeichnung dafür, wie Valadez es schafft, Empathie zu evozieren.

Das Ende kommt dann umso überraschender und brutaler als erwartet – Sin señas particulares ist kein Märchen mit Happy End, ein Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt scheint unmöglich. Am Schluss von Magdalenas Suche nach der Wahrheit wird – und mit ihr das Publikum – mit der Frage konfrontiert, was man mit dem Gefundenen macht. Stellt man sich der brutalen Realität oder überhöht man die Geschichte zum eigenen Schutz nicht lieber zur märchenhaften Erzählung?

START 18.2.2021 REGIE Fernanda Valadez BUCH Fernanda Valadez, Astrid Rondero KAMERA Claudia Becerril Bulos SCHNITT Susan Korda, Astrid Rondero, Fernanda Valadez MUSIK Clarice Jensen DARSTELLER*IN (ROLLE) Mercedes Hernández (Magdalena), David Illescas (Miguel), Juan Jesús Varela (Jesús), Ana Laura Rodríguez (Olivia), Lara Elena Ibarra (Chuya), Xicoténcatl Ulluoa (Pedro) PRODUKTION Corpulenta, Mexiko 2020 DAUER 97 Min. VERLEIH CH Trigon-Film STREAMING Filmingo
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