Crime Scene: The Vanishing at the Cecil Hotel

Joe Berlinger
Der Mythos von Los Angeles als La-La-Land mag irgendwo am Leben sein, aber bestimmt nicht in den düsteren, neuen True-Crime-Miniserien auf Netflix. Die Jüngste in der Reihe, Crime Scene: The Vanishing at the Cecil Hotel, wartet mit einem unerwartet abgewogenen Tonfall auf.
Zwei Sachen fallen sofort auf, wenn man Netflix’ neue True-Crime-Miniserie Crime Scene: The Vanishing at the Cecil Hotel sieht. Erstens: Nach Night Stalker: The Hunt for a Serial Killer scheint der Streamingservice gerade endgültig mit einem Los-Angeles-Image aufräumen zu wollen, das ohnehin nur Leute haben können, die noch nie durch Downtown marschiert sind und den Sunset Boulevard eher aus La La Land kennen. Der Mythos lebt. Aber eben nicht hier, in Crime Scene, in dem ein Kriminalfall aus dem LA des jahres 2013 aufwickelt: Wenn jemandem die Chemie in den Venen gerade nicht bekommt, einen bad trip hat, oder ein allzu wütender Pimp durch die Strassen geht, dann wird in Downtown auch zweifelsohne mal das Messer gezückt, da macht die Serie keinen Hehl draus. Darum waren auch alle besorgt, als eine kanadische Touristin genau dort, aus dem Cecil Hotel inmitten der Stadt der Engel, verschwand.

Und zweitens: True Crime funktioniert nicht mehr ohne das Internet, ohne Youtuber*innen und sogenannte digital sleuths, Detektiv*innen im Netz. Sie sind es, die die Social-Media-Kanäle der Polizeistationen durchforsten und unaufgeklärte Fälle entdecken, um sie im Internet zum Phänomen zu machen. Die quasi die Aufmerksamkeitsökonomie regieren, die dann offensichtlich wieder entscheidet, welche Fälle es zur Miniserie auf Netflix schaffen. Auch nach dem Verschwinden von Elisa Lam waren sie es, die ein Video auf der polizeilichen Website fanden, das ominöser und suggestiver kaum hätte sein können: Die junge Studentin ist da winkend, tanzend, sich versteckend, mehrere Knöpfe auf einmal drückend im Lift des Cecils zu sehen – ganz allein und verdächtig aufgedreht erscheint sie, und es soll die letzte Spur der 21-Jährigen sein, bevor sie verschwindet. Polizistenköpfe rauchen, das Internet tippt sich mit Verschwörungstheorien die Finger wund.

Das Neuartige dieser Serie – soviel muss verraten sein – steckt bestimmt nicht im Formalen, denn da folgt sie bereits begangenen Pfaden: Archivmaterial, Expert*innen als talking heads, usw. Und auch nicht darin, dass wir erfahren, was wahrscheinlich passiert sei. Das wird fast schon nebensächlich. Stattdessen werden wir mit der Mob-Qualität und der bodenlosen Lust des Internets konfrontiert, sich an Investigationen zu beteiligen und mit immer abstruseren Theorien aufzuwarten. Dem gegenüber stellt die Dok nüchterne Detektive, die geduldig erklären, wieso gewisse Sachen den Hobby-Privatdetektiv*innen so erscheinen müssen: Es sei nun einmal so, dass die Polizei nicht immer alle Informationen teile. Und dann gibt es dieses seltsam abgewogenes (und selten gesehenes) Eingeständnis des Internet-Personals, das zugibt, dass vielleicht nicht immer alles so verworren ist. Das ist Post-Q-Anon! Und so 2021, so Nach-Kapitol-Stürmung, so bedacht. Und vielleicht, so fragt man sich beim Sehen, ist die Zeit der Thin Blue Line-Doks vorbei, die uns einst gezeigt haben, dass alles viel komplexer sei, als die faule Polizei es abtue. Das hier ist ein Dok, der uns zeigt, dass in einer Gesellschaft, in der nicht alle gleiche Chancen haben – was für diesen Mikrokosmos in Downtown-LA eben zutrifft –, Verbrechen und unglückliche Zufälle leider Alltag sind.

START 10.02.2021 REGIE Joe Berlinger KAMERA Jeff Hutchens SCHNITT Jessica Miller, Erik Chappelle, Colin Cosack, etc. MIT Tim Marcia, Amy Price, Josh Dean, Santiago Lopez PRODUKTION Imagine Documentaries, RadicalMedia, Third Eye Motion Picture Company, USA 2021 STREAMING Netflix
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