Burning Memories

Alice Schmid
Jahrzehnte danach erinnert sich Regisseurin Alice Schmid an einen verdrängten Übergriff, der ihr Leben und Schaffen prägte. Mit Burning Memories richtet Schmid die Kamera erstmals auf sich selbst und schafft in einer schockierenden Tabulosigkeit ihr bislang persönlichstes Werk.
Schlaflos sei sie schon gewesen, bevor sie ein Gemälde wieder an ihre Kindheit erinnerte und an das, was was ihr damals geschah, im Zelt, nach dem Schwimmunterricht, mit dem Lehrer. Der Schatten verfolgt sie bis in die afrikanische Wüste, wo sich Alice Schmid auf die Spuren ihrer Traumata begibt; in der gleissenden Sonne, in diesem berührend biografischen Film.
Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass Schmid sich schon in ihren anderen Filmen, in Die Kinder von Napf und Das Mädchen vom Änziloch etwa, mit der Kindheit Anderer auseinandergesetzt hat. Denn ihre wurde an diesem Tag, damals im Zelt, schlagartig beendet. Danach hatte Schmid eine Weile nicht geredet, wurde nach Belgien in ein Heim für Kinder zur Mitarbeit geschickt, wo sie ihre Sprache vorerst wiedergefunden, das Geschehene aber auch verdrängt hat.
Weil es wohl schwer ist, darüber zu reden, filmt Schmid nun gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Karin Slater in Südafrika, sie setzt in Zusammenhänge, sie erinnert sich und spricht in Voice-over über alle ihre Erkenntnisse. Und das mit einer Klarheit, auf die sich die Zuschauer*innen gefasst machen müssen: Denn so einfach ist es auch für uns nicht, das Geschehen Schritt für Schritt durchzugehen. Aber Schmid tut das in ihrem Film auch sehr behutsam, reflektiert, das macht Burning Memories, diesen biografischen Film über den selbst erlebten Kindesmissbrauch, so differenziert.

Eindringliche, schwer- und zugleich leichtfüssige Akkordeonklänge, die Schmid selbst einspielte, begleiten die Bilder. Schmid blättert in Burning Memories auch durch ihre eigene Filmografie, und auch ihr erscheint nun überdeutlich, warum sie in ihren bisherigen Filmen immer wieder die Kindheit mit all ihren Ups und Downs hatte einfangen wollen. Und wieso sie sich so einfühlsam auf die Augenhöhe der jungen Protagonist*innen begeben konnte, die sie dann auch, besonders im Publikumserfolg Die Kinder vom Napf, bereitwillig an ihrem Leben teilhaben liessen.
Interessant ist auch, wie Schmid die Rollen der Schweizer Institutionen und ihrer Familie mit einbringt, ohne anzuklagen. Dem Schwimmlehrer wollte sie als junges Mädchen ohne viel Erfahrung gefallen, sie fühlte sich geschmeichelt, die Religion brachte ihr die Scham bei, die Schuld, und der Familie, vor allem der Mutter, war ohnehin selten etwas recht zu machen. Es war dieses Umfeld, in dem nicht nur dieser Moment sich abspielte, es bewirkte auch, dass Schmid sich danach nicht selbst wieder auffangen konnte.
Am dramaturgischen Höhepunkt des Films steht denn auch ein Brief an die Mutter, in dem Schmid endlich niederschreibt, was ihr widerfahren ist. Wie die Mutter darauf reagiert, ob der Brief überhaupt den Weg zu ihr findet, das ist nicht Teil des Films, und das muss es auch nicht sein: Endlich darüber zu schreiben, zu reden, zu filmen, um das gehts.
Jede*r darf erinnern, wie sie oder er will, und dass der Film ein spannendes Medium dafür ist, wurde kürzlich schon in Sasha Neulingers Rewind (2019) klar. Auch er drehte einen biografischen Film, in dem der junge Amerikaner in das Korpus der Heimvideos aus seiner Kindheit schaut, um dort den damaligen Täter zu erkennen. In ihrer Behutsamkeit, ihrer Differenziertheit erinnern die beiden Werke aneinander und geben nicht nur Mut, sondern den Opfern selbst das Filmwerkzeug in die Hand, um das Erlebte aus ihrer Sicht neu zu gestalten.
In diesen biografischen Filmen wird also das Schweigen gebrochen, auch bei Schmid, die Bilder und Worte findet, um das Ungesagte endlich ausdrücken. Um das Mädchen von damals aus dem Zelt zu befreien, wie Schmid selbst sagt. Ein wichtiger und mutiger Film. Selina Hangartner
START noch nicht bekannt REGIE, BUCH, MUSIK Alice Schmid KAMERA Karin Slater SCHNITT Anja Bombelli PRODUKTION Ciné A.S. GmbH, SRF, CH 2020 DAUER 80 Min. VERLEIH CH Outside the Box
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