The Father

Florian Zeller
Upper Class, eine abgedunkelte, wunderschöne Wohnung inmitten Londons, was kann schief gehen? Vor dem Erkranken an Demenz ist niemand sicher, und Anthony (Anthony Hopkins) ist gefangen – nicht nur in der Stadtwohnung, sondern in seinem eigenen Netz der Verirrungen und Verwirrungen. Er muss etwa im ständigen Verdacht leben, dass ihm seine Armbanduhr geklaut wurde, auch wenn es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er sie selbst verlegt hat.
Doch sein Gedächtnis spielt nicht mit. Das lastet insbesondere auch auf den Schultern seiner Tochter (meistens gespielt von der grossartigen Olivia Colman), die sich Mühe gibt, Normalität, Struktur, ja Wohlbefinden im Leben ihres Vaters zu erhalten. Und das verlangt sichtlich viel ab.
Der Pariser Florian Zeller, der zurzeit zu den am meisten gefeierten Theaterregietalenten auf diesem Kontinent gehört, hat mit The Father sein eigenes, oft ausgezeichnetes Theaterstück «Le père» adaptiert, das 2012 im Theater Hébertot in Frankreichs Hauptstadt eröffnete und etwa von der «Times» zu den besten Theaterstücken des vergangenen Jahrzehnts gezählt wird.
Auch nun, als Film, wird klar, was die Vorlage von Zeller so einzigartig macht: Es wird repetiert, verdichtet, überlagert, und die Struktur des Films entgleitet langsam und adaptiert, was – so stellt man sich das zumindest vor – Anthonys Denkstruktur sein könnte. Einmal soll es Hühnchen zum Abendessen geben, so meint Tochter Anne mit Einkaufstüten in den Händen, doch als Anthony kurz darauf wieder in die Küche kommt und sich danach erkundigt, weiss niemand mehr etwas davon.

Nicht nur das: Die Tochter sieht plötzlich aus wie die Pflegerin, die Pflegerin wie die andere, jüngere Tochter, der Schwiegersohn sieht einmal aus wie Mark Gatiss, dann wie Rufus Sewell, Wände rücken – so hat man zumindest das Gefühl – zehn Zentimeter zurück und dann wieder vor, Bilder hängen höher und tiefer und zeigen in der nächsten Szene ein ganz anderes Motiv. Das erzeugt Misstrauen, und was eigentlich komfortable Familienszenen in einer gepflegten Wohnung sein sollten, zieht uns bei allen Verirrungen und Verwirrungen in das gleiche emotionale Up-and-Down, das die Figuren gerade durchleben müssen.
Die Suche nach Wahrheit, nach zeitlichen Abläufen und Struktur lässt man bald hinter sich, etwas Anderes bleibt den Zuschauer*innen gar nicht übrig. Stattdessen muss man sich eingestehen, dass es für Anthony kein Jenseits der Verwirrung mehr gibt, keine Pause, keine Übersicht. Alles verschwimmt. Und man ist ganz nahe bei ihm.
Was vielleicht wie ein Chris-topher-Nolan-Kammerspiel klingt, in dem man dazu verleitet sein könnte, ständig erfahren zu wollen, was nun wahr ist und was nicht, wird keine Sekunde lang zum Gimmick; dafür sind Drehbuch und schauspielerische Leistungen schlicht zu stark. Besonders Hopkins gilt mit seiner rührenden Darstellung einer Figur, die genauso alt ist wie der Star selbst, nun als Anwärter in der anstehenden Award-Saison, und in anderen Jahren hätte er auch als sicherer Gewinner gelten dürfen (dass er sich so vielen anderen guten Darbietungen stellen muss, etwa Chadwick Bosemans in Ma Rainey’s Black Bottom, spricht für die Qualität gegenwärtiger Produktionen).
Neben ihm in The Father nicht unterzugehen, gleicht einem Kunststück, das Colman, Gatiss, Sewell, Olivia Williams und Imogen Poots gelingt. Zusammen schaffen sie – in diesem begrenzten, dunklen Setting, das noch an das Dispositiv Theater erinnert –, wie man so schön sagt: ganz grosses Kino.
START 20.05.2021 REGIE Florian Zeller BUCH Florian Zeller, Christopher Hampton KAMERA Ben Smithard SCHNITT Yorgos Lamprinos MUSIK Ludovico Einaudi DARSTELLER*IN (ROLLE) Olivia Colman (Anne), Anthony Hopkins (Anthony), Mark Gatiss (Mann), Olivia Williams (Frau), Imogen Poots (Laura) PRODUKTION F comme Film, Trademark Films, Cine@, AG Studios, F, GB 2020 DAUER 97 Min. VERLEIH Ascot Elite
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