Filmbulletin Print Logo
Lavenir2

L’avenir

Gibt es für Frauen ein Altern in Würde? Wie findet man einen neuen Lebensinhalt, wenn die Kinder ausgeflogen sind? Was hält das Leben für einen Menschen in der zweiten Lebenshälfte bereit? Mia Hansen-Løve hält sich nicht mit Details auf, sie lässt die verschiedenen Fragen und Themen zusammenfliessen und kreiert damit eine Geschichte, die Raum für Auseinandersetzungen mit eben jenen Fragen schafft.

Text: Victoria Gehriger / 12. Aug. 2016

«Frauen ab vierzig sind sowieso reif für die Tonne.» So unbeeindruckt beschreibt die Philosophielehrerin Nathalie ihre Situation, während sie mit ihrem ehemaligen Schüler Fabien durch den Park spaziert. Ihr Mann Heinz, ein Geschichtslehrer, verlässt sie für eine andere. Sie hat fast schon damit gerechnet, und eigentlich fällt ihr vor allem die Trennung vom Ferienhaus in der Bretagne schwer. Dieses gehört nämlich ihrem Mann und sie muss nun vom Haus und all den Erinnerungen darin Abschied nehmen. Abschied bedeutet oft das Ende eines (Lebens-)Abschnitts, aber auch Neuanfang, bringt auch Freiheit mit sich.

Ein Panoramaschwenk über das ruhige, menschenleere Meer, irgendwo mittendrin schwimmt Nathalie. Ein Moment der vollkommenen Ruhe, der Vertrautheit, der Freiheit. In der nächsten Einstellung greift sie nach einer Kirsche und schiebt sich diese mit kindlicher Freude in den Mund. Ihre jugendliche Körperhaltung erinnert an eine Achtzehnjährige, eine junge Frau, die sich erholen und alle Sorgen zu Hause in Paris lassen möchte. Das gestaltet sich schwierig, denn ein Grossteil ihrer Freizeit geht für die Eskapaden ihrer Mutter drauf. Mal steigt diese kaum aus dem Bett, mal ruft sie drei Mal pro Woche die Feuerwehr. Das Altern bekommt dem ehemaligen Model gar nicht und als sie schliesslich in ein Pflegeheim gebracht wird, fängt sie rapide an, ihr Gedächtnis zu verlieren. So bleibt die Trennung von Heinz nicht Nathalies einziger Verlust. Bald darauf stirbt zuerst ihre Mutter und dann kündigt ihr Verlag, für den sie Lehrbücher schrieb, auch noch «aus Marketinggründen» ihren Vertrag. Was ihr bleibt sind ihre zwei erwachsenen Kinder, Fabien und die Katze ihrer Mutter.

Lavenir4

Fabien, mit dem sie in einem freundschaftlichen Verhältnis steht, lädt sie in seine Kommune ein. Auf dem Weg zum abgelegenen Hof, realisiert Nathalie zum ersten Mal, dass sie, wenn auch unfreiwillig, die komplette Freiheit erlangt hat. Sie ist befreit von allen Verpflichtungen. Nun hat sie also genug Zeit um herauszufinden, was sie damit anfängt. Auf dem Hof warten ein warmes Kaminfeuer, freundliche Gesellschaft, Wälder und Wiesen auf sie. Doch auch da fühlt sie sich nicht ganz zugehörig. Aus den politischen Diskussionen zwischen Fabien und seinen Freunden hält sie sich raus. Das hat sie alles schon hinter sich und jetzt nochmal damit anfangen, darin sieht sie keinen Sinn. Wir beobachten Nathalie, wie sie durch die grünen Wälder streift. Wie ein junges Mädchen läuft sie in ihrem Blumenkleid suchend über die Wiesen. Wonach sie sucht, wird nicht ganz klar, vorerst soll es ein schöner Platz zum Lesen sein. Sie legt sich hin, die Kamera entfernt sich mit einer Rückwärtsfahrt, und wir lassen Nathalie in dieser pittoresken Landschaft zurück.

Lavenir1

So friedlich, wie eben beschrieben, bleibt es jedoch nicht. Ihr Ausbruch, auf den man schon seit einer Weile wartet, kommt zwar leise, aber berührend. Zurück in ihrem Zimmer bricht Nathalie fast lautlos in Tränen aus und schmiegt sich trotz ihrer Allergie auf Katzenhaare an die Katze ihrer Mutter. Wieder erinnert sie an ein Kind, schwach und fragil, wie sie da im Bett liegt. Dieses Mal warten zu Hause nicht Verpflichtungen auf sie, sondern eine zerbrochene Welt. Als Zuschauer erinnert man sich an eine frühere Szene, als Nathalie in die Wohnung kommt, sich auf das Sofa fallen lässt und da sitzt wie eine Marionette, deren alle Fäden durchgeschnitten worden sind. Da hätte man den Ausbruch erwartet. Die Tatsache, dass er erst viel später kommt, macht klar, wie lange sie versucht hat, stark zu bleiben. Wie sehr sie sich bemüht hat, sich zumindest ihrem Umfeld gegenüber nichts anmerken zu lassen. Und nun: Was soll sie machen, nachdem sie alles schon hatte?

Lavenir3

Genau darum geht es in L’Avenir. Gibt es für Frauen ein Altern in Würde? Womit beschäftigt man sich, wenn einem nur noch die tägliche Arbeit bleibt? Wie findet man einen neuen Lebensinhalt, wenn die Kinder ausgeflogen sind? Was hält das Leben für einen Menschen in der zweiten Lebenshälfte bereit? Mia Hansen-Løve hält sich nicht mit Details auf, sie lässt die verschiedenen Fragen und Themen zusammenfliessen und kreiert damit eine Geschichte, die Raum für Auseinandersetzungen mit eben jenen Fragen schafft. Die Figuren legen keine melodramatischen Auftritte hin, was den Zuschauer dazu einlädt, sich in die Figuren hineinzuversetzen und deren Emotionen nachzuempfinden. Eine Auseinandersetzung mit Themen, die uns möglicherweise noch gar nicht betreffen, aber bestimmt Menschen im näheren Umfeld. Und für einmal wird Verständnis geschaffen für die Mütter und Grossmütter in unseren Familien, anstatt immer nur für die Jungen mit ihren Teenagerproblemen. Ein wahrlich ehrlicher Film, der mit so einer Unaufdringlichkeit daher kommt, wie man es von Mia Hansen-Løve gewohnt ist.

Victoria Gehriger hat im Juli 2016 bei Filmbulletin ein Praktikum absolviert.

Weitere Empfehlungen

Junge Kritik

25. Mai 2018

Tranquillo

Obwohl die Identifizierung mit der Hauptfigur von Tranquillo eher schwerfällt, werden sich speziell Zürcher Kinogäste von der Musik und den Bildern der kleinsten Metropole der Welt angesprochen fühlen.

Junge Kritik

11. Juli 2020

The Pageant

Fernab von unangenehmen moralischen Untertönen zeigt Eytan Ipekers Dokumentarfilm die Miss-Holocaust-Survivor-Wahl in einem Alternsheim Jerusalems. Das Groteske daran löst sich in The Pageant absichtlich nicht auf.

Junge Kritik

25. Apr. 2016

Demain/Tomorrow

Ein Puzzleteil fügt sich reibungslos ans andere, als letztes das Bild von Kindern, die fröhlich ins Wasser springen. Ist das, was der französische Dokumentarfilm Demain als Vision entwirft, zu schön, um wahr zu sein? Am Anfang steht die Prognose: Zusammenbruch unseres Ökosystems zwischen 2040 und 2100. Die Schauspielerin Mélanie Laurent und der französische Aktivist Cyril Dion machen sich, Lösungen zu suchen.