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Happyend1

Loveless Upper Class

Text: Tereza Fischer / 23. Mai 2017

Kein anderes Festival lebt so vom Glamour und den Stars wie Cannes. Das Festival schafft es dabei trotzdem, die Filmkunst zu zelebrieren, was für mich und für Filmbulletin weit wichtiger ist. Diese Mischung kann man sich dennoch als Kritikerin zum Vorbild nehmen und neben der Arbeit auch das Leben an der Côte d'Azur geniessen. Fürs Schreiben stehen mehrere Presseräume zur Verfügung, den schönsten habe ich erst vor zwei Tagen entdeckt: Die heuer neu eingerichtete «terrasse des journalistes» bietet nicht nur eine schöne Aussicht und bequemen Sitzgelegenheiten, sondern neben Kaffee und Wasser auch Wein und Bier. Da fühlt man sich auch während der Arbeit ein bisschen privilegiert.

In dieser hervorragenden Stellung also lasse ich die letzten Filme Revue passieren. Was dabei auffällt, ist die Beschäftigung der meisten Wettbewerbsfilme mit der besseren Gesellschaft. Das ist eine Tendenz, die ich in dieser Häufung als unangenehm empfinde. Das Vergnügen, das diese Filme bereiten, mischt sich mit der Scham, zu dieser privilegierten Bevölkerungsschicht zu gehören, von der der Rest der Welt offensichtlich ausgeblendet wird oder höchstens als störender Faktor wahrgenommen wird.

Happyend2

Dass Michael Haneke den Titel seines Film Happy End zynisch verwendet, überrascht kaum. Mit gewohnter Präzision legt er die Lieblosigkeit in einer reichen Familie bloss. Diese Beschreibung verweist nicht zufällig auf Andrej Swiagintzews Loveless. Auch hier sind Kinder dem Egozentrismus ihrer Eltern ausgeliefert. So kommt die 13-jährige Eve nach dem Selbstmordversuch ihrer depressiven Mutter in die reiche, aber dysfunktionale Familie ihres Vaters. Während dieser auch seine zweite Frau, mit der er einen kleinen Sohn hat, betrügt, herrscht seine Schwester (Isabelle Huppert) über das Familiengeschäft und über ihren für sie enttäuschenden Sohn Paul. Einzig zu ihrem Grossvater entwickelt Eve so etwas wie eine Beziehung. Der von Jean-Louis Trintignant gespielte lebensmüde Patriarch versteht sie am ehesten.

Happy End ist ein bisschen eine Fortsetzung von Amour: Auch hier spielt Trintignant einen alten Mann, der seine todkranke Frau aus Mitleid erstickte und dessen Tochter von Huppert gespielt wird. Haneke vereint hier viele Elemente aus früheren Filmen zu einer beissenden Kritik. Happy End vermag jedoch viel weniger zu berühren und zu erschüttern als Caché, Das weisse Band oder Amour.

Meyerowitz

Mit sich selbst absorbiert und unfähig, seine Kinder um ihrer selbst willen zu lieben, ist auch der von Dustin Hoffman gespielte Künstler Harold Meyerowitz in Noah Baumbachs The Meyerowitz Stories. Als er wegen einer Hirnblutung für lange Zeit ins Krankenhaus muss, kommen die jahrzehntelangen Verletzungen, Frustrationen, die Eifersucht und Scham der drei (Halb-)Geschwister an die Oberfläche. Ben Stiller und Adam Sandler, die sonst in lauten Komödien nervige Trottel geben, hat man selten in so passenden Rollen gesehen. Man sollte sich also vom Cast nicht abschrecken lassen. Der Film balanciert entlang brillanter Dialoge gekonnt und berührend zwischen Komödie und Tragödie.

Killing

Lieblos sind auch die Eltern in Yorgos Lanthimos’ The Killing of the Sacred Deer. Die Familie, die in diesem Horrorfilm à la Shining im Lauf des Films zersetzt wird, scheint zunächst perfekt zu sein. Beide Eltern sind Ärzte, der Vater Herzchirurg, die Kinder begabt, hilfsbereit und höflich. Diese langweilige Perfektion (Nicole Kidman stellt die Ehefrau dar, die passend dazu beim Sex eine schöne Anästhetisierte, eine schöne Leiche sozusagen, spielt) wird allerdings von der Vergangenheit eingeholt: Ein Kunstfehler des Herzchirurgen, der damals unter Alkoholeinfluss stand, hat zum Tod eines Patienten geführt. Dessen halbwüchsiger Sohn Martin bringt mit einem äusserst höflichen Verhalten die Familie an den Abgrund. Plötzlich werden die Kinder krank: Lähmung, Essensverweigerung, blutende Augen, Tod, das sind die vier Phasen, die Martin dem Chirurgen voraussagt. Dass sich in dieser auf Perfektion bedachten, oberflächlichen Welt der Vater nicht selbst opfern wird, ist konsequent. Lanthimos hat sich ein unheimliches Ende ausgedacht.

Diese Häufung von Lieblosigkeit der Bevorteilten steht wohl weniger für die drängenden Probleme auf dieser Welt. Sie liest sich eher als Nabelschau der Gesellschaft, die sich in Cannes ein Stelldichein gibt.

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