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Familienbande

Elternliebe, Kinderleid – Lukas Dhonts erschütternder Erstling Girl und der herausragende Shoplifters von Hirokazu Kore-eda widmen sich in Cannes 2018 der Familie. Teil 6 unseres Festivalblogs.

Text: Tereza Fischer / 16. Mai 2018

Zu einem Festival, das sich doch fast zwei Wochen hinzieht, gehört auch, dass man als Journalist_in trotz viel Arbeit und unterhaltsamer Ablenkung seine Kinder vermisst. Facetime sei Dank, können wir ab und zu telefonieren und uns auf dem kleinen Bildschirm des Smartphones sogar sehen. Ich werde dennoch gegen Ende des Festivals bei bestimmten Themen rührseliger als zu Beginn, besonders dann, wenn es um Eltern und Kinder geht.

In der Reihe «Un certain regard» überzeugte der überaus gelungene Erstlingsfilm des Belgiers Lukas Dhont. Girl erzählt vom immensen Leiden der 16-jährigen Lara (hervorragend gespielt von Viktor Poster), die im Körper eines Jungen geboren wurde. Seit langem erhält sie Hormonspritzen und plant nun auch eine operative Umwandlung. Ihr fehlt jedoch die Geduld. Sie hält es kaum in ihrem «falschen» Körper aus und klebt sich den Penis jeden Tag aufs Neue mit breiten Klebstreifen so fest ab, dass sie damit ihre Gesundheit riskiert: Sie trinkt während des täglichen, anstrengenden Balletttrainings kaum etwas, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen. Lara ist auf eine angesehene Ballettschule aufgenommen worden und verfolgt dort verbissen das Ziel, den Spitzentanz genauso gut zu beherrschen wie die anderen Mädchen.

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Sowohl bei ihrem Wunsch ein Mädchen zu sein als auch dabei, die Ballettausbildung erfolgreich zu absolvieren, wird sie ohne Einschränkungen von ihrem Vater unterstützt – die Mutter ist aus unbekannten Gründen abwesend. Doch der Vater beginnt sich Sorgen um seine Tochter zu machen. Erst sind es nur Kleinigkeiten, die den Vater irritieren, etwa wenn sich Lara die Ohrläppchen selbst durchsticht. Doch die Sorgen wachsen zusammen mit Laras immer rücksichtloseren Umgang mit ihrem Körper: Sie isst zu wenig und schindet sich beim Balletttraining. Beim Abkleben ihrer männlichen Genitalien appelliert er mehrmals verzweifelt an ihre Vernunft. Doch die Anzeichen, dass Laras seelisches Leiden grösser ist als jeder körperliche Schmerz häufen sich. In Girl sind deshalb nicht nur Laras psychischen und physischen Qualen schwer mit anzusehen, sondern auch die Ohnmacht dieses liebevollen Vaters.

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Im Wettbewerb erzählen gleich zwei Filme von Menschen, die eine starke Verbundenheit als Familie fühlen, ohne miteinander verwandt zu sein. Im bereits besprochenen [art:wir-und-die-anderen:Yomeddine] entwickeln der Waisenjunge Obama und der von seinem Vater verstossene leprakranke Beshay auf ihrer Suche nach ihren echten Familien eine starke Vater-Sohn-Beziehung. Der Frage aber, was eine Familie eigentlich ist und auszeichnet, widmet sich der Meister des subtilen und berührenden Familiendramas, Hirokazu Kore-eda, mit dem hervorragenden Wettbewerbsbeitrag Manbiki kazoku, der auf Englisch Shoplifters und auf Französisch Une affaire de famille heisst.

In der ersten Einstellung haben Vater und Sohn ihren Auftritt als geschickte Ladendiebe. Auf dem Nachhauseweg entdecken sie auf einem Balkon ein frierendes, hungriges fünfjähriges Mädchen. Aus Mitgefühl nehmen sie sie mit in ihr ärmliches Zuhause zu Frau, Grossmutter und Tante. Als sie dann noch Zeichen von physischer Misshandlung finden, beschliessen sie, der kleinen Yuri ein Zuhause zu geben.

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Kore-eda zeigt einen derart liebevollen Umgang dieser Menschen miteinander, dass wir gerne die Augen davor verschliessen, dass es sich bei Yuris Aufnahme in die Familie eigentlich um Kidnapping handelt. Am Rande der Gesellschaft halten sie sich mit schlecht bezahlten Jobs, Prostitution, Betrügereien und Diebstahl über Wasser. Man sieht diesen Menschen gerne zu, wie sie ihren Tätigkeiten nachgehen, um sich abends in aller Herzlichkeit und Fürsorge zu Hause wieder zu begegnen. Schnell fühlt man sich als Zuschauer_in in ihrem winzigen Häuschen pudelwohl. Doch nach und nach streut Kore-eda kleine Hinweise darauf ein, dass mit dieser Familie substanziell etwas nicht stimmt. Das macht er derart meisterhaft, dass man sich am Ende verwundert und bezaubert die Augen reibt.

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